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11. November 2024
Veröffentlichungsreihe – 35 von 96 Insights
BGH: Bilanzielle Zuordnung von Stromentnahmen in höheren Spannungsebenen bei Ausfall des Lieferanten - Eine Handlungsempfehlung für Netzbetreiber
- Briefing
*Update zu den Urteilen des OLG Düsseldorf vom 02. März 2023 (Az. 5 U 1/22 und 5 U 3/22)
What are the decisions about?
In zwei Urteilen vom 17. September 2024 (Az. EnZR 57/23 und EnZR 58/23) hat der BGH jüngst über die Frage der bilanziellen Zuordnung in höheren Spannungsebenen bei Ausfall eines Energielieferanten entschieden. Auf die Revision der Klägerin und der Beklagten hat der BGH die jeweils vorangegangenen Urteile des OLG Düsseldorf (wir berichteten) abgeändert und neu gefasst.
Was ist passiert?
In dem den Urteilen zugrunde liegenden Sachverhalt war die geplante Belieferung von Letztverbrauchern in der Mittelspannungsebene infolge der Insolvenz ihres neuen Stromlieferanten nicht mehr möglich. Die Letztverbraucher schlossen daraufhin kurzfristig Übergangsversorgungsverträge mit ihrem bisherigen Stromlieferanten. Diese Versorgungsverträge wurden jedoch aufgrund eines Systemfehlers auf Seiten des Lieferanten nicht rechtzeitig bei dem zuständigen Netzbetreiber angemeldet. Der Netzbetreiber ordnete sodann, entsprechend den Vorgaben zur Niederspannungsebene, die Stromentnahme an den betreffenden Marklokationen dem Bilanzkreis des örtlich zuständigen Grund- und Ersatzversorgers zu. Der örtliche Grund- und Ersatzversorger stellte den Letztverbrauchern ab dem Zeitpunkt der Zuordnung den gelieferten Strom in Rechnung. Die Bewertung dieses Sachverhalts durch den BGH (vorgehend: OLG Düsseldorf, Urteile v. 2. März 2023, 5 U 1/22 und 5 U3/22) erfolgte in den beiden Verfahren aus zwei unterschiedlichen Perspektiven:
- In dem Verfahren EnZR 57/23 nahm der (Alt-)Lieferant, der – aufgrund des insolvenzbedingten Wegfalls des neuen Lieferanten – Übergangsversorgungsverträge mit den betroffenen Letztverbrauchern geschlossen hatte, den Netzbetreiber (Bekl. zu 1) und den örtlich zuständigen Grund- und Ersatzversorger (Bekl. zu 2) auf Unterlassung, Beseitigung und Schadensersatz wegen Weitergabe und Nutzung kundenbezogener Daten sowie aufgrund der (aus ihrer Sicht) unrichtigen Zuordnung der Letztverbraucher zum Bilanzkreis des Grund- und Ersatzversorgers in Anspruch.
- In dem Verfahren EnZR 58/23 klagte einer der betroffenen Letztverbraucher gegen den örtlich zuständigen Grund- und Ersatzversorger auf Rückzahlung der infolge der bilanziellen Zuordnung zu dessen Bilanzkreis bereits geleisteten Zahlungen.
Welche Aspekte der Urteile sind für Netzbetreiber besonders relevant?
- Eine Zuordnung zur Ersatzversorgung, wie es gem. § 38 Abs. 1 S. 1 EnWG für den Bereich der Niederspannung anordnet, findet auf Fälle des Energiebezugs in höheren Spannungsebenen keine entsprechende Anwendung. Die Voraussetzungen für eine analoge Anwendung des § 38 Abs. 1 S. 1 EnWG sind nicht gegeben. Es liegt weder eine planwidrige Regelungslücke vor, noch ist die Interessenlage (besondere Schutzbedürftigkeit der Haushaltskunden) vergleichbar.
- Ein Vertrag zwischen dem Letztverbraucher und dem Grund- und Ersatzversorger kann nicht durch Einbeziehung informatorischer Preisblätter in den Anschlussnutzungsvertrag des Netzbetreibers, die auf eine Ersatzbelieferung durch den Grund- und Ersatzversorger verweisen, begründet werden. Ob eine in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen („AGB“) der Netzbetreiber enthaltene Ermächtigung, die Lieferstelle eines Letztverbrauchers im Falle einer Versorgungslücke dem Grund- und Ersatzversorger zuzuordnen, wegen Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot (§ 20 EnWG), gegen die Entflechtungsvorschriften (§ 6 EnWG) oder das Gebot der Netzneutralität unwirksam ist (so die Auffassung des OLG Düsseldorf), hat der BGH offengelassen.
- Die vom BGH entwickelten Grundsätze aus dem Bereich der Niederspannung, wonach die Bereitstellung von Energie eine Realofferte des Grundversorgers darstellt, die vom Letztverbraucher mit der Entnahme konkludent angenommen wird, können nicht ohne Weiteres auf höhere Spannungsebenen übertragen werden. Es kommt auf die Umstände des Einzelfalls an, ob diese tatsächlichen Verhaltensweisen (Bereitstellung und Entnahme des Stroms) ein Vertragsverhältnis begründen können. In höheren Spannungsebenen kommt es insbesondere dann nicht zum konkludenten Vertragsschluss durch Entnahme von Energie, wenn der Letztverbraucher von dem Ausfall seines Lieferanten keine Kenntnis hat, oder zumindest nicht weiß, von wem der (außerhalb der Niederspannung) bezogene Strom zu welchen Konditionen geliefert wird. Darunter fallen auch die Fälle, in denen der Letztverbraucher bereits einen Stromliefervertrag mit einem anderen Lieferanten abgeschlossen hat und damit von einer Stromlieferung ausgehen musste, dieser Lieferant aber ausfällt und vertragswidrig nicht liefert. Liegt hingegen ein gänzlich vertragsloser Zustand vor, kann in der Zwischenzeit ein gesetzliches Schuldverhältnis in Gestalt der Geschäftsführung ohne Auftrag („GoA“) durch Zurverfügungstellung des Stroms in Betracht kommen. Dieses hat so lange Bestand, bis der Letztverbraucher Kenntnis von der „Realofferte“ in Form der Bereitstellung der Energie erlangt und durch Entgegennahme der Stromlieferung ein konkludenter Belieferungsvertrag zustande kommt.
- Bei Ausfall eines Energielieferanten in der Mittelspannungsebene und fehlender vertraglich vereinbarter Ersatzversorgung ist eine Anschlusssperre Ultima Ratio. Jedenfalls für eine zur Umsetzung der Sperrung erforderliche Übergangszeit muss der Netzbetreiber die Lieferstelle dem Bilanzkreis desjenigen Lieferanten zuordnen, der aus der Sicht des Netzbetreibers voraussichtlich in der Lage ist, die Versorgung kurzfristig sicherzustellen. Zwar entspricht eine Sperrung den Festlegungen der Bundesnetzagentur (GPKE 2017, S. 42). Nach Auffassung des BGH liege jedoch eine sofortige Sperrung nicht im Interesse des Letztverbrauchers, der u.U. keine Kenntnis von dem Ausfall seines Lieferanten habe. Eine plötzliche Kappung führe zu erheblichen Nachteilen, weshalb eine Sperrung erst nach entsprechendem zeitlichem Vorlauf erfolgen dürfe.
- Der Netzbetreiber muss die Zuordnung diskriminierungsfrei nach sachlichen Kriterien vornehmen. Dabei muss er insbesondere die Netzstabilität, die Versorgungssicherheit und die sonstigen Interessen der betroffenen Letztverbraucher berücksichtigen. Besteht in dem Zeitpunkt, in dem der Folgelieferant ausfällt, noch ein Vertragsverhältnis mit dem bisherigen Lieferanten, so hat der Netzbetreiber die Lieferstelle über das Vertragsende hinaus diesem bisherigen Lieferanten zuzuordnen. Besteht kein Vertragsverhältnis, steht dem Netzbetreiber (im Rahmen seiner Pflicht, diskriminierungsfrei nach sachlichen Kriterien zu entscheiden) ein Wahlrecht zu. Auch der Grund- und Ersatzversorger kann danach als geeignet erachtet werden, allerdings nicht aufgrund seiner Stellung als öffentlicher Grundversorger, sondern nur bei Erfüllung der zuvor genannten Kriterien.
- War die Bilanzkreiszuordnung wegen Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot (§ 20 Abs. 1 EnWG) rechtswidrig, muss der Netzbetreiber die fehlerhafte Zuordnung gegebenenfalls auch rückwirkend innerhalb der Clearingfristen korrigieren. Dies gilt – entgegen der MaBiS – auch dann, wenn der Lieferant, dem die Lieferstelle fehlerhaft zugeordnet war, seine Zustimmung verweigert.
„Check-Liste“ für die Praxis:
- § 38 Abs. 1 S. 1 EnWG findet in höheren Spannungsebenen keine (analoge) Anwendung.
- Ein Vertrag zwischen Letztverbraucher und Grund- und Ersatzversorger kommt nicht durch Einbeziehung informatorischer Preisblätter in den Anschlussnutzungsvertrag zustande.
- Ob ein Vertragsschluss durch entsprechende AGB begründet werden kann, bleibt offen.
- Die in der Niederspannung geltenden Grundsätze zum konkludenten Vertragsschluss durch Bereitstellung und Entnahme von Strom sind nicht auf höhere Spannungsebenen übertragbar. Ob ein Vertrag konkludent zustande kommt, hängt vom Einzelfall ab.
- Bei dem Prozess „Beginn der Ersatz-/Grundversorgung“ i.S.d. GPKE hat der Netzbetreiber in einem ersten Schritt zu prüfen, ob sich die Marktlokation in der Niederspannung befindet.
- Nur wenn dies der Fall ist, erfolgt (zunächst) die Meldung der Marktlokation durch den Netzbetreiber an den Ersatz-/Grundversorger.
- Bei Marktlokationen in höheren Spannungsebenen muss der Netzbetreiber im Falle einer Versorgungslücke die Lieferstelle für eine Übergangszeit (jedenfalls bis zur Umsetzung der Sperrung) dem Bilanzkreis desjenigen Lieferanten zuordnen, der aus seiner Sicht voraussichtlich in der Lage ist, die Versorgung kurzfristig sicherzustellen.
- Liegt im Zeitpunkt des Ausfalls des Folgelieferanten noch ein Vertragsverhältnis mit dem bisherigen Lieferanten vor, muss die Lieferstelle auch über das Ende dieses Vertragsverhältnisses hinaus diesem Lieferanten zugeordnet werden.
- Die Zuordnung muss diskriminierungsfrei nach sachlichen Kriterien unter Berücksichtigung der Netzstabilität, der Versorgungssicherheit und sonstige Interessen der betroffenen Letztverbraucher erfolgen.
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