25. Mai 2021
Veröffentlichungsreihe – 6 von 32 Insights
Deutschland soll bis 2045 klimaneutral werden. Das hat die Bundesregierung als Reaktion auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts über Verfassungsbeschwerden gegen das Klimaschutzgesetz vom 24. März 2021 verkündet. Dieses ehrgeizige Ziel lässt sich nur mit einem umfangreichen Ausbau der Erzeugung erneuerbarer Energien, insbesondere durch die Errichtung von Windenergieanlagen erreichen. Gleichwohl stockt der Ausbau der Windenergie gewaltig. Neben Abständen zu Siedlungen hindern vor allem Konflikte mit den Vorschriften des Artenschutzrechts – insbesondere hinsichtlich der sogenannten europäischen Vogelarten (z.B. Rotmilan (Milvus Milvus)) – oftmals die Realisierung. Laut Aussagen des Bundeswirtschaftsministeriums scheitern bis zu 70% der Genehmigungsverfahren aufgrund von artenschutzrechtlichen Vorschriften, vorrangig wegen Verstößen gegen das sogenannte artenschutzrechtliche Tötungsverbot.
Antwort: Nach Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts liegt ein Verstoß gegen das artenschutzrechtliche Tötungsverbot nicht bereits vor, wenn im Einflussbereich der Anlagen überhaupt Tiere der geschützten Art angetroffen worden sind; erforderlich sind vielmehr Anhaltspunkte dafür, dass sich das Risiko eines Vogelschlages durch das Vorhaben signifikant, also deutlich gegenüber dem allgemeinen Lebensrisiko, erhöht. Bei der Frage, ob ein artenschutzrechtlicher Verbotstatbestand nach § 44 BNatSchG erfüllt ist, steht der Behörde eine naturschutzfachliche Einschätzungsprärogative zu. Besteht nach Begutachtung ein signifikant erhöhtes Tötungsrisiko, kann das Vorhaben nicht realisiert werden. Rechtlich rückt der Fokus daher immer wieder auf die Möglichkeit, gem. § 45 Abs. 7 BNatschG eine Ausnahme von den artenschutzrechtlichen Verboten zu erteilen. Die Umweltminister der Bundesländer (UMK) haben in einer Erklärung vom 13. Mai 2020 ausdrücklich betont, dass die artenschutzrechtliche Ausnahme i.S.d. § 45 Abs. 7 BNatSchG das rechtliche Mittel sei, um Belange des Artenschutzes und die zügige Schaffung und Sicherung einer klimaneutralen Energieversorgung in Ausgleich zu bringen.
Antwort: Für Aufsehen sorgte ein Urteil des VG Gießen vom 22. Januar 2020 (Az.: 1 K 6019/18.GI, juris). Das Gericht hatte entschieden, dass eine für die Errichtung von Windenergieanlagen erteilte Befreiung rechtswidrig sei und die erteilte Genehmigung nach BImSchG aufgehoben. Das Gericht begründet seine Auffassung damit, dass der Ausnahmetatbestand des § 45 Abs. 7 Satz 1 Nr. 5 BNatSchG („aus anderen zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses einschließlich solcher sozialer oder wirtschaftlicher Art“) wegen der abschließenden Aufzählung der Ausnahmegründe in Art. 9 Abs. 1 Richtlinie 2009/147/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. November 2009 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten (V-RL) auf europäische Vogelarten nicht anwendbar sei. Dem ist das OVG Münster nun entgegengetreten (Beschluss vom 12. März 2021, Az.: 7 B 8/21, juris). Windenergieanlagen sind nach Ansicht des Gerichts „im Interesse der öffentlichen Sicherheit“ sehr wohl ausnahmefähig. Weiter seien die Naturschutzbehörden bei der Verletzung von artenschutzrechtlichen Verboten von Amts wegen verpflichtet zu prüfen, ob eine Ausnahme erteilt werden kann.
Antwort: Der nun gerichtlich offenbar gewordene Streit besteht schon länger. So wird in der Literatur die Auffassung vertreten, dass Windenergieanlagen generell nicht ausnahmefähig seien. Es ist zum einen umstritten, auf welche Ausnahmegründe i.S.d. § 45 Abs. 7 BNatschG Ausnahmen von artenschutzrechtlichen Verboten hinsichtlich der europäischen Vogelarten zur Realisierung von Windenergie gestützt werden können. In Frage kommen die Ausnahmegründe „im Interesse der öffentlichen Sicherheit“ (Nr. 4) sowie „aus anderen zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses einschließlich solcher sozialer oder wirtschaftlicher Art“ (Nr. 5). Dahinter steht die Problematik, dass die V-RL in Art. 9 nur Ausnahmen aus Gründen der öffentlichen Sicherheit vorsieht. Es ist weiter umstritten, ob die Regelungen in Art. 9 V-RL abschließend sind oder einer sinngemäßen und erweiternden Auslegung durch das nationale Recht zugängig sind.
Antwort: Die Rechtsprechung des OVG Münster und die Stellungnahme der Umweltminister haben in der Branche große Hoffnungen geweckt, dass mit einer großzügigeren Handhabung der Ausnahme i.S.d. § 45 Abs. 7 BNatSchG der stockende Ausbau der Windenergie in Deutschland vorangetrieben werden kann. Es ist bereits zu beobachten, dass die Erteilung von Ausnahme i.S.d. § 45 Abs. 7 BNatschG vermehrt Anwendung findet. Zu befürchten ist aber, dass die Erteilung von Ausnahme zu heftigem Widerstand von Seiten der Umweltverbände und Bürger*innen führen wird und sich die Zahl gerichtlicher Auseinandersetzungen rund um Zulassungsverfahren für Windenergieanlagen nicht reduzieren wird. Rechtssicherheit über die Zulassung von Windenergieanlagen im Wege der Ausnahme i.S.d. § 45 Abs. 7 BNatSchG, hinsichtlich der europäischen Vogelarten, wird langfristig nur ein Urteil des Europäischen Gerichtshof bringen können. Bis dahin sollte grundsätzlich darauf Acht gegeben werden, bei der Erteilung von Genehmigungen unter Inanspruchnahme der Ausnahme i.S.d. § 45 Abs. 7 BNatSchG möglichst schnell eine Bestandskraft der Genehmigung, über die Möglichkeit der öffentlichen Bekanntmachung, herbeizuführen.
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