1. Februar 2024
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Handelt es sich bei einer geplanten Personalabbaumaßnahme um eine anzeigepflichtige Massenentlassung im Sinne von § 17 Abs. 1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG), kann eine Kündigung nach der vom 2. Senat des Bundesarbeitsgerichts (BAG) seit 2012 vertretenen Auffassung erst wirksam erklärt werden, wenn die Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 3 KSchG ordnungsgemäß erfolgt ist.
Geht dem Arbeitnehmer eine Kündigung vor dem Zeitpunkt des Eingangs der ordnungsgemäßen Entlassungsanzeige bei der zuständigen Agentur für Arbeit zu, führt dies nach bisheriger Rechtsprechung daher unweigerlich zur Unwirksamkeit der Kündigung gem. § 134 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Dem tritt der 6. Senat des BAG nunmehr in drei Beschlüssen vom 14. Dezember 2023 (6 AZR 155/21 (B), 6 AZR 121/22 (B) und 6 AZR 157/22 (B)) entgegen.
Den drei beim 6. Senat des BAG anhängigen Verfahren liegen Sachverhalte zugrunde, in denen eine erforderliche Massenentlassungsanzeige vor Kündigungserklärung entweder gar nicht oder (aus unterschiedlichen Gründen) fehlerhaft erstattet wurde. Der 6. Senat vertritt die Auffassung, bei § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG handele es sich – entgegen der bisherigen Auffassung des 2. Senats – nicht um ein Verbotsgesetz im Sinne von § 134 BGB; ein Verstoß gegen § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG führe daher nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung. Hierbei bezieht sich der 6. Senat ausdrücklich auf alle denkbaren Fehler im Anzeigeverfahren. Das Anzeigeverfahren bezwecke nicht den Schutz einzelner Arbeitnehmer. Es diene allein zur Information und Vorbereitung der Arbeitsverwaltung, um auf die sozio-ökonomischen Auswirkungen der geplanten Massenentlassungen auf den lokalen Arbeitsmarkt reagieren zu können. Hiermit reagiert der 6. Senat auf eine zuvor ergangene Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, Urt. v. 13. Juli 2023 – C-134/22). Der EuGH hatte im Juli 2023 auf Vorlage des 6. Senats entschieden, dass Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der Massenentlassungsrichtlinie RL 98/59/EG, umgesetzt in deutsches Recht durch die in § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG vorgesehene Pflicht des Arbeitgebers zur Zuleitung einer Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat an die Agentur für Arbeit, keinen Individualschutz gewähre. Hierüber haben wir in unserem Newsletter vom 26. Juli 2023 berichtet.
Der 6. Senat hält das von der Rechtsprechung entwickelte Sanktionssystem bei Fehlern im Anzeigeverfahren insgesamt für inkohärent und unverhältnismäßig und beabsichtigt daher, die bisherige Rechtsprechung aufzugeben. Vor diesem Hintergrund hat er im Verfahren 6 AZR 157/22 (B) an den 2. Senat die Anfrage gerichtet, ob dieser an seiner bisherigen Rechtsauffassung festhalte. Bis zur Entscheidung des 2. Senats hierüber hat der 6. Senat die drei Verfahren vorerst ausgesetzt; die abschließenden Entscheidungen stehen also noch aus. Der 2. Senat muss nun erklären, ob er an seiner Rechtsauffassung festhält. Sollte dies der Fall sein, ist die Rechtsfrage dem Großen Senat zur Entscheidung vorzulegen. Sollte sich der 2. Senat der Rechtsauffassung des 6. Senats anschließen, wird es zur Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung des BAG und zu einer deutlichen Vereinfachung der Rechtlage bei geplanten Massenentlassungen kommen.
Angesichts der Fehleranfälligkeit von Massenentlassungsanzeigen sind mit dem Anzeigeverfahren auf Basis des von der Rechtsprechung entwickelten Sanktionssystems beträchtliche rechtliche Risiken für Arbeitgeber verbunden. Die sich abzeichnende Kehrtwende des BAG würde zu einer deutlichen Entlastung der Arbeitgeber beitragen und kann daher nur begrüßt werden. Wird es zu der erwarteten Rechtsprechungsänderung kommen, werden Fehler bei der Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG – ohne eine entsprechende Gesetzesänderung – voraussichtlich nicht mehr zur Unwirksamkeit einer Kündigung führen. Bis zur abschließenden Klärung dieser Frage sind Arbeitgeber allerdings weiterhin dringend gehalten, im Anzeigeverfahren größtmögliche Sorgfalt walten zu lassen und die gesetzlich vorgesehenen Anforderungen einzuhalten.
Mit Blick auf das nach § 17 Abs. 2 KSchG mit dem Betriebsrat im Rahmen geplanter Massenentlassungen durchzuführende Konsultationsverfahren sind demgegenüber keine Änderungen zu erwarten. Der 6. Senat hat insoweit ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er in Übereinstimmung mit dem 2. Senat daran festhalte, dass Fehler im Konsultationsverfahren die Nichtigkeit der Kündigung gem. § 134 BGB zur Folge haben. Das Konsultationsverfahren solle es dem Betriebsrat ermöglichen, auf die Willensbildung des Arbeitgebers einzuwirken, um Massenentlassungen zu verhindern oder zu beschränken. Hierbei handele es sich um ein betriebsverfassungsrechtliches Beteiligungsrecht, welchem eine individualschützende Funktion zukomme. § 17 Abs. 2 KSchG stelle daher ein Verbotsgesetz im Sinne des § 134 BGB dar.
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