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26. Juli 2023

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Neues EuGH-Urteil zur Massenentlassungsanzeige: Kündigungen (nicht) unwirksam?

  • Briefing

Bei einer Massenentlassung ist der Bundesagentur für Arbeit frühzeitig eine Abschrift von der Betriebsratsunterrichtung zuzuleiten. Diese Norm verleiht keinen Individualschutz für Arbeitnehmer, entschied der EuGH in einem neuen Urteil (Urteil vom 13. Juli 2023, Rechtssache C-143/22). Folglich dürfte ein Verstoß gegen diese Zuleitungspflicht aus § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG nicht zur Unwirksamkeit einer Kündigung führen. Ob damit das Massenentlassungsrecht insgesamt ein zahnloser Tiger ist, und welche weiteren Entwicklungen noch ausstehen, erklären wir in diesem Beitrag.

Massenentlassung: Pflicht zur Übersendung einer Abschrift der Betriebsratsunterrichtung an die Behörde

Plant ein Arbeitgeber eine größere Zahl an Entlassungen, die die Schwellenwerte nach § 17 Abs. 1 KSchG überschreiten würde, ist eine Massenentlassungsanzeige notwendig. Existiert ein Betriebsrat im Betrieb, so ist dieser vorab nach § 17 Abs. 2 KSchG zu konsultieren. Der Arbeitgeber hat hierzu Auskünfte zu erteilen und schriftlich unter anderem über die geplanten Entlassungen, Gründe, Zeitraum, Anzahl und Berufsgruppen zu unterrichten. Erst nach Abschluss dieses Konsultationsverfahrens kann die eigentliche Anzeige der Massenentlassung bei der Bundesagentur für Arbeit erfolgen. Das Gesetz sieht gleichwohl in § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG vor, dass die Behörde bereits eine erste Information mit der schriftlichen Unterrichtung des Betriebsrats erhält, indem der Arbeitgeber eine Abschrift der Betriebsratsunterrichtung an die Bundesagentur für Arbeit schickt. Eine entsprechende Regelung enthält auch die zugrundeliegende europäische Massenentlassungsrichtlinie (RL 98/59/EG – „MERL“) in Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2.

Vorlagefrage des BAG: Welchen Zweck hat § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG?

Im Streitfall, der dem BAG vorlag, war die Übermittlung einer solchen Kopie der Betriebsratsunterrichtung an die Bundesagentur für Arbeit jedoch unterblieben. Das Gericht hatte daher zu entscheiden, wie sich der Verstoß gegen § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG auf die Kündigung auswirkt. Weder Gesetz noch Richtlinie sehen eine Rechtsfolge explizit vor. In ständiger Rechtsprechung hatte das BAG in der Vergangenheit jedoch bei Fehlern im Massenentlassungsanzeigeverfahren die Kündigung sehr streng gemäß § 134 BGB für unwirksam erklärt (vgl. BAG, Urteil vom 21. März 2013 – 2 AZR 60/12; Urteil vom 22. November 2012 – 2 AZR 371/11). Dies sollte allerdings stets nur dann gelten, wenn die spezielle Norm Individualschutz verleiht. Das Bundesarbeitsgericht leitete ein Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH ein und fragte, welchen Zweck die zugrundeliegende Richtlinie in diesem Punkt verfolgt.

Urteil des EuGH: Kein Individualschutz für Arbeitnehmer

Der EuGH urteilte, dass die Vorab-Zuleitungspflicht an die Behörde nicht den Zweck habe, den von Massenentlassung betroffenen Arbeitnehmern Individualschutz zu gewähren. Für den Gerichtshof war entscheidend, dass die Mitteilung an die Behörde nur zu Informations- und Vorbereitungszwecken erfolgt und es der Behörde lediglich ermöglichen soll, sich einen Überblick über die Gründe und die Folgen der geplanten Entlassungen zu verschaffen. Die Mitteilung erfolgt mit Beginn der Konsultation, solange die Entlassungen nur beabsichtigt sind. Spätere Änderungen sind oftmals möglich. Die Behörde kann sich also nicht auf die Angaben verlassen und soll sich nur allgemein mit der Massenentlassung befassen, und nicht mit der individuellen Situation jedes Einzelnen. Rechtspositionen für den einzelnen Arbeitnehmer sind folglich nicht zu erkennen.

Als Konsequenz dieser neuen Rechtsprechung ist zu erwarten, dass die deutschen Gerichte Kündigungen nicht mehr nur wegen eines Verstoßes gegen § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG für unwirksam erklären werden.

Was bedeutet dies für das deutsche Sanktionssystem im Massenentlassungsrecht generell? Führen Verstöße gegen Massenentlassungsvorschriften noch zur Unwirksamkeit der Kündigung?

Die Rechtsprechung des BAG, dass Fehler im Massenentlassungsverfahren oder der Massenentlassungsanzeige zur Unwirksamkeit der Kündigung führen können, wurde schon lange kritisiert. Schließlich – so betont es auch der EuGH – ist es das Hauptziel der Richtlinie, dass vor Massenentlassungen eine Konsultation der Arbeitnehmervertreter durchgeführt und die zuständige Behörde unterrichtet wird – und weniger der Schutz des Einzelnen vor Kündigung. Damit passt die Unwirksamkeitsfolge nicht zum Ziel der Richtlinie. Unklar bleibt, ob das deutsche Sanktionssystem generell verworfen werden wird. Das Urteil des EuGH bezieht sich nur auf die konkrete Norm und lässt sich nur schwer verallgemeinern. Der Generalanwalt ließ in seiner Stellungnahme noch vermuten, dass das Massenentlassungsanzeigeverfahren insgesamt nur kollektiven und keinen individuellen Schutz verleihe; diesen Gedanken hat der Gerichtshof in seiner schriftlichen Urteilsbegründung aber nicht aufgegriffen. Zur Klärung dieser Frage hat das Bundesarbeitsgericht bereits ein weiteres Vorabentscheidungsverfahren eingereicht (BAG, Beschluss vom 11. Mai 2023 – 6 AZR 157/22 (A)).

Praxishinweise

Geklärt ist, dass die Übermittlungspflicht nach § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG keinen Individualschutz verleiht und daher ein Verstoß hiergegen nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung führen dürfte. Ob Kündigungen überhaupt noch wegen eines Verstoßes gegen die Massenentlassungsvorschriften unwirksam sein können, bleibt aber offen. Dies wird sich wohl erst mit der erneuten Vorlage des BAG sagen lassen, deren Beantwortung durch den EuGH im Jahr 2023 nicht mehr zu erwarten ist. Bis auf weiteres ist Arbeitgebern weiterhin bei der Anfertigung der Massenentlassungsanzeige größtmögliche Sorgfalt und die Einhaltung aller gesetzlich vorgesehenen Schritte zu empfehlen. Sollte allerdings die Entwicklung dahin gehen, dass der EuGH wie vom Generalanwalt vorgezeichnet entscheidet, könnte das Massenentlassungsrecht doch noch zum „zahnlosen Tiger“ werden.

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