22. Dezember 2022
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Das Bundesarbeitsgericht (BAG) lässt ein weitreichendes Ansammeln von Urlaubstagen zu: In dem mit großem medialem Interesse verfolgten Urteil vom 20. Dezember 2022 (9 AZR 266/20) entschied das BAG, dass der Urlaubsanspruch eines Arbeitnehmers nicht der Verjährung unterliegt, wenn der Arbeitgeber seinen Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten nicht nachkommen ist.
In einer Parallelentscheidung (9 AZR 245/19) stellte das Gericht zudem fest, dass im Falle einer Arbeitsunfähigkeit der Urlaubsanspruch bei einer verspäteten Information und Aufforderung trotz Ablauf der geltenden „15-Monatsfrist“ fortbestehen kann. Damit folgt das BAG den Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und drängt Arbeitgeber zur Prüfung und Überarbeitung ihrer Mitteilungen gegenüber ihren Arbeitnehmern zu deren Resturlaub.
Nach der gesetzlichen Regelung erlischt ein für das laufende Kalenderjahr bestehender Urlaubsanspruch, wenn dieser nicht bis zum Ende des jeweiligen Kalenderjahres oder bei einer Übertragung bis zum 31. März des Folgejahres gewährt und genommen wurde, § 7 Abs. 3 S. 2 Bundesurlaubgesetz (BUrlG).
Urlaub, der wegen einer Arbeitsunfähigkeit (Krankheit) nicht im Jahr seines Entstehens bzw. während des Übertragungszeitraums genommen werden kann, verfällt nach bisheriger Rechtslage 15 Monate nach Ende des Urlaubsjahres („15-Monatsfrist“). In den letzten Jahren verschärfte der EuGH (Urteil vom 06. November 2018, Az. C-684/16) und das BAG (Urteil vom 19. Februar 2019, Az. 9 AZR 423/16) die Voraussetzungen für ein Erlöschen des Urlaubsanspruchs.
Demnach kann der gesetzliche Urlaub nur entfallen, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor konkret und in völliger Transparenz in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch wahrzunehmen. Erforderlich ist, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer auffordert, seinen Urlaub zu nehmen, und ihm klar und rechtzeitig mitteilt, dass der Urlaub bei fehlender Beantragung zum Ende des Kalenderjahres / Übertragungszeitraums verfällt (Aufforderungs- und Hinweispflicht). Kommt der Arbeitgeber dieser Mitwirkungsobliegenheit nicht nach, tritt der aus einem vorigen Kalenderjahr nicht verfallene Urlaub zu dem für das Folgejahr entstehende Urlaubsanspruch hinzu (Kumulieren von Urlaubsansprüchen).
Bisher ungeklärt war die Frage, inwiefern ein über das Kalenderjahr bzw. den Übertragungszeitraum fortbestehender Urlaubsanspruch der gesetzlichen Verjährung unterliegt.
In dem nun vom Bundesarbeitsgericht zu entscheidenden Fall begehrte eine Arbeitnehmerin gegenüber ihrem ehemaligen Arbeitgeber eine finanzielle Abgeltung von nicht gewährten Urlaubstagen. Nach eigener erstinstanzlicher Aussage hatte sie in den Jahren 2013 – 2017 wegen starker Arbeitsbelastung im Unternehmen 101 Urlaubstage nicht in Anspruch genommen. Der ehemalige Arbeitgeber forderte die Arbeitnehmerin weder auf, den Urlaub zu nehmen, noch wies er sie darauf hin, dass der nicht beantrage Urlaub verfallen könnte. Vor Gericht berief sich der Arbeitgeber darauf, dass die Ansprüche aus dem obigen Zeitraum verjährt seien.
Nach Vorlage durch das BAG (sog. Vorabentscheidungsverfahren) entschied zunächst der EuGH (Urteil vom 22. September 2022, Az. C-120/21) unter Berufung auf Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, dass über den üblichen Zeitraum fortbestehende Urlaubsansprüche auch nicht innerhalb von drei Jahren verjähren (§ 194 BGB), sofern der Arbeitnehmer nicht über die Möglichkeit verfügt hat, seinen Urlaubsanspruch rechtzeitig auszuüben. Die Gewährleistung der Rechtssicherheit dürfe nicht als Vorwand dienen, um zuzulassen, dass sich der Arbeitgeber auf sein eigenes Versäumnis berufe, den Arbeitnehmer in die Lage zu versetzen, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub tatsächlich auszuüben.
Dem folgte das BAG nun (Urteil vom 20. Dezember 2022, Az. 9 AZR 266/20). Die regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren beginne bei einer richtlinienkonformen Auslegung des § 199 Abs. 1 BGB erst mit dem Schluss des Jahres, in dem der Arbeitgeber den Arbeitnehmer über seinen konkreten Urlaubsanspruch und die Verfallfristen belehrt und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat. Das Gericht kritisierte, dass der Arbeitgeber die Klägerin nicht durch Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten in die Lage versetzt habe, ihren Urlaubsanspruch wahrzunehmen. Die Ansprüche verfielen deshalb weder am Ende des Kalenderjahres (§ 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG) noch am 31. März des Folgejahres im Falle einer zulässigen Übertragung (§ 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG). Ebenso wenig konnte der beklagte Arbeitgeber mit Erfolg einwenden, der nicht gewährte Urlaub sei bereits während des laufenden Arbeitsverhältnisses nach Ablauf von drei Jahren verjährt.
Die Bedeutung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten des Arbeitgebers kam in einem Parallelverfahren (BAG, Urteil vom 20. Dezember 2022, 9 AZR 266/20) ebenfalls zum Tragen. Demnach bestehe der Urlaubsanspruch im Falle einer Arbeitsunfähigkeit nach Ablauf der 15-Monatsfrist fort, wenn die Arbeitsunfähigkeit im Verlauf eines Kalenderjahres eintrete und der Arbeitgeber zuvor nicht für das laufende Kalenderjahr seine Hinweis- und Aufforderungspflichten erfüllt habe. Dagegen verfalle der Urlaubsanspruch weiterhin nach Ablauf von 15 Monaten, wenn die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers seit Beginn des Urlaubsjahres und bis zum 31. März des Folgejahres bestehe. Eine Information bzw. Aufforderung könne in diesem Fall nicht zur Inanspruchnahme des Urlaubs beitragen und sei daher entbehrlich.
Das BAG setzte mit diesem Urteil die vom EuGH entwickelte Rechtsprechungslinie um. Ob die Entscheidung dem Gesundheitsschutz und der Erholung von Arbeitnehmern tatsächlich dient, ist fraglich. Die strenge Hinweisobliegenheit schafft jedenfalls mehr Bürokratie für Arbeitgeber. Dass nun vergangene offene Urlaubsansprüche erst dann verfallen, wenn der Arbeitgeber auf ihren Verfall rechtzeitig und hinreichend hingewiesen hat, dürfte sich vor allem bei der Beendigung des Arbeitsverhältnisses auswirken. Dann nämlich können Arbeitnehmer Urlaubsabgeltung gemäß § 7 Abs. 4 BUrlG für ihre noch nicht verfallenen Urlaubsansprüche fordern.
Besonders problematisch ist, dass die Rechtsprechung des EuGH, mit der erstmals die Hinweisobliegenheit postuliert wurde, 2018 erfolgte. Gleichwohl wird ihr Rückwirkung für die Vergangenheit verliehen. Verständlicherweise wird kein Unternehmen vor diesen Urteilen die Hinweisobliegenheit gekannt und entsprechende Schreiben verschickt haben. Jeglicher noch offener Resturlaub aus den Vorjahren in noch laufenden Arbeitsverhältnissen wird dann nicht verfallen und nicht verjährt sein. Vertragliche oder tarifliche Ausschlussfristen dürften ebenfalls nicht helfen, da für sie nichts anderes gelten kann als für die gesetzliche Verjährung. Potenziell können damit selbst 20 Jahre alte Resturlaubsansprüche heute noch geltend gemacht werden, wenn das Arbeitsverhältnis noch besteht.
Ein regelmäßiger präziser Hinweis auf den verbleibenden Resturlaub sollte spätestens jetzt zur Routine für jeden Arbeitgeber werden. Dieser muss geeignet sein, den Arbeitnehmer in die Lage zu versetzen, in Kenntnis aller relevanten Umstände frei darüber zu entscheiden, ob er seinen Urlaub in Anspruch nehmen möchte. Dies erfordert zumindest (i) eine Mitteilung über die Höhe an Resturlaub im laufenden Kalenderjahr, (ii) eine Aufforderung, den Resturlaub zeitnah zu nehmen und (iii) einen Hinweis, dass der Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfällt, wenn er nicht beantragt wird.
Zusätzlich ist zu raten, die Urlaubskonten der Vergangenheit auf nicht verfallenen Resturlaub zu prüfen. Erst wenn die Arbeitnehmer über alle offenen Urlaubsansprüche aus den zurückliegenden Jahren unterrichtet worden sind, können diese verjähren. Andernfalls ist bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses der verbliebene Urlaub abzugelten. Aufgrund der notwendigen Urlaubsrückstellungen wird die Frage alter Urlausansprüche auch von den Wirtschaftsprüfern genau beobachtet werden.
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