30. Mai 2023
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Spricht der Arbeitgeber eine fristlose Kündigung aus, bietet er dem Arbeitnehmer jedoch gleichzeitig eine Weiterbeschäftigung zu unveränderten Bedingungen während des Kündigungsschutzprozesses an, um Annahmeverzug zu vermeiden, so verhält sich der Arbeitgeber widersprüchlich.
Annahmeverzug stellt ein wirtschaftliches Risiko im Rahmen eines Kündigungsrechtsstreits dar. Bei einer unwirksamen Kündigung durch den Arbeitgeber besteht das Risiko, dass dieser trotz ausgebliebener Arbeitsleistung dennoch zur Zahlung der Vergütung verpflichtet ist.
Grundsätzlich wendet das BAG § 296 BGB im Rahmen der Bestimmung des Annahmeverzugs bei unwirksamen Kündigungen an. Der Arbeitnehmer braucht demnach seine Arbeitsleistung nicht anzubieten. Es obliegt vielmehr dem Arbeitgeber, dem Arbeitnehmer die Leistungserbringung zu ermöglichen, indem er ihm einen funktionsfähigen Arbeitsplatz bereitstellt und ihm Arbeit zuweist.
Umstritten ist jedoch, ob der Arbeitgeber den Annahmeverzug dadurch verhindern kann, dass er nach Ausspruch der Kündigung eine Weiterbeschäftigung anbietet.
Die Rechtsprechung geht davon aus, dass das Angebot der Weiterbeschäftigung zu unveränderten Bedingungen den Annahmeverzug entfallen lassen kann. Mit diesem Thema hat sich das BAG nun erneut beschäftigt.
Der Arbeitnehmer war zunächst als technischer Leiter mit einem Bruttomonatsgehalt von EUR 5.250 bei dem beklagten Arbeitgeber beschäftigt. Im Dezember 2019 sprach die Beklagte dann eine fristlose Änderungskündigung mit dem Inhalt aus, dass der Kläger zu einer geringeren Vergütung von EUR 3.750 brutto fortan als „Softwareentwickler“ tätig wird.
In dem Kündigungsschreiben schrieb der Arbeitgeber: „Im Falle der Ablehnung der außerordentlichen Kündigung durch Sie […] oder im Falle der Annahme des folgenden Angebots erwarten wir Sie am 09. Dezember 2019 spätestens um 12:00 Uhr MEZ zur Arbeitsantritt.“
Das Änderungsangebot wurde durch den Arbeitnehmer abgelehnt. Nachfolgend erschien der Kläger nicht zur Arbeit und erbrachte folglich keine Arbeitsleistung. Daraufhin kündigte der Arbeitgeber erneut außerordentlich zum 17. Dezember 2019 und forderte den Arbeitnehmer zum Arbeitsantritt auf, sollte dieser die außerordentliche Kündigung ablehnen. Der Arbeitnehmer erhob daraufhin Kündigungsschutzklage. Das Arbeitsgericht stellte fest, dass beide Kündigungen unwirksam waren. Nun stellte sich also die Frage, ob der Arbeitnehmer wegen der unwirksamen Kündigungen einen Anspruch auf Annahmeverzugslohn hat.
In den Vorinstanzen waren die Gerichte der Auffassung, der Arbeitnehmer habe trotz der unwirksamen Kündigungen keinen Anspruch auf Annahmeverzugsvergütung. Dies begründete die Vorinstanz damit, dass der Kläger das Arbeitsangebot hätte annehmen müssen. Der Kläger sei nicht leistungswillig gewesen (vgl. § 297 BGB).
Das BAG entschied am 29.März 2023 (5 AZR 255/22) jedoch, dass sich der Arbeitgeber aufgrund der unwirksamen außerordentlichen Kündigungen in Annahmeverzug befunden habe und der Arbeitnehmer daher einen Anspruch auf Annahmeverzugslohn habe.
Grund hierfür sei das widersprüchliche Verhalten des Arbeitgebers. Der Arbeitgeber habe deutlich gemacht, dass ihm eine weitere Beschäftigung des Arbeitnehmers unzumutbar sei. Mit der fristlosen Kündigung gebe der Arbeitgeber regelmäßig zu erkennen, dass ihm eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses auch nur bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist nicht zumutbar sei. Daher spreche eine tatsächliche Vermutung dafür, dass der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer kein ernst gemeintes Angebot der Weiterbeschäftigung unterbreitet habe. Die Ablehnung dieses „Angebots der Weiterbeschäftigung“ spreche daher nicht für einen fehlenden Leistungswillen des Arbeitnehmers (vgl. § 297 BGB). In Betracht käme lediglich, dass sich der Arbeitnehmer den böswillig unterlassenen Verdienst anrechnen lassen müsse (vgl. § 11 Nr. 2 KSchG). Dies sei jedoch hier ebenfalls nicht einschlägig gewesen, da dem Arbeitnehmer die Prozessbeschäftigung aufgrund der im Rahmen der Kündigung gegen ihn erhobenen Vorwürfe nicht zumutbar gewesen sei.
Daran ändere der Antrag auf vorläufige Weiterbeschäftigung, den der Arbeitnehmer im Rahmen des Prozesses gestellt habe nichts, denn die Weiterbeschäftigung war ihm dennoch unzumutbar. Der Antrag sei schließlich auf Prozessbeschäftigung nach festgestellter Unwirksamkeit der Kündigung gerichtet, so das BAG. Nur wenn der Kläger in einem solchen Fall diese Weiterbeschäftigung abgelehnt hätte, hätte er sich seinerseits widersprüchlich verhalten. Es mache einen Unterschied, ob der Arbeitnehmer trotz der gegen ihn im Rahmen einer verhaltensbedingten Kündigung erhobenen Vorwürfe weiterarbeiten solle oder ob er nach Obsiegen im Kündigungsschutzprozess gewissermaßen „rehabilitiert“ in den Betrieb zurückkehren könne.
Der Annahmeverzug birgt im Kündigungsschutzprozess mitunter erhebliche wirtschaftliche Risiken für beide Parteien. Die Rechtsprechung des BAG zum sehr praxisrelevanten Thema des Annahmeverzugs wird stetig fortentwickelt. Die neue Entscheidung beschäftigt sich mit dem im Kündigungsschutzprozess nicht ungewöhnlichen widersprüchlichen Verhalten beider Parteien. Es bleibt nun abzuwarten, wie die Gerichte die nun entwickelte „tatsächliche Vermutung“ im Rahmen der Weiterbeschäftigung umsetzen werden. Ziel sollte es daher sein, im Kündigungsschutzprozess ein widersprüchliches Verhalten zu vermeiden.
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