26. August 2025
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Mit Urteil vom 03. April 2025 (Az.: 2 AZR 178/24) hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) entschieden, dass Arbeitgeber nicht verpflichtet sind, vor einer ordentlichen Kündigung eines schwerbehinderten Menschen während der ersten sechs Monate des Arbeitsverhältnisses ein Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX durchzuführen.
Ein schwerbehinderter Leiter der Haus- und Betriebstechnik, erhielt von seinem Arbeitgeber bereits nach drei Monaten - der Hälfte der Probezeit - eine ordentliche Kündigung. Ein Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX wurde vom Arbeitgeber zuvor nicht durchgeführt. Der Arbeitnehmer erhob daraufhin Kündigungsschutzklage mit der Begründung, der Arbeitgeber sei verpflichtet gewesen, vor Kündigungsausspruch ein Präventionsverfahren durchzuführen. Der Arbeitgeber argumentierte hingegen, der Kläger habe sich fachlich als ungeeignet erwiesen. Sowohl das Arbeitsgericht Nordhausen (Urteil vom 30.08.2023, 2 Ca 293/23) als auch das Thüringer Landesarbeitsgericht (Urteil vom 04.06.2024, 1 Sa 201/23) entschieden zugunsten des Arbeitgebers und wiesen die Klage ab. Das BAG bestätigte die Entscheidungen der Vorinstanzen.
Das Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX führt eher ein Schattendasein. Deutlich bekannter ist Abs. 2 der Norm. Dort ist das betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) geregelt, das durchzuführen ist, wenn Arbeitnehmer innerhalb von 12 Monaten länger als sechs Wochen arbeitsunfähig sind. Häufig übersehen wird hingegen die arbeitgeberseitige Pflicht aus Abs. 1. Nach § 167 Abs. 1 SGB IX hat der Arbeitgeber „bei Eintreten von personen-, verhaltens- oder betriebsbedingten Schwierigkeiten“ im Arbeitsverhältnis eines schwerbehinderten Menschen ein Präventionsverfahren durchzuführen. Hierbei handelt es sich – ähnlich wie beim BEM – um einen ergebnisoffenen Suchprozess, in dessen Rahmen alternative Abhilfemaßnahmen zum Ausspruch einer Kündigung evaluiert werden sollen. Wird kein Präventionsverfahren durchgeführt, macht dies eine Kündigung zwar nicht unwirksam, es erhöht den Begründungsaufwand des Arbeitgebers im Kündigungsschutzprozess jedoch erheblich und führt oftmals dazu, dass das Integrationsamt die erforderliche Zustimmung zur Kündigung eines schwerbehinderten Menschen nicht erteilt.
Im vorliegenden Fall war die Durchführung eines Präventionsverfahrens jedoch nicht erforderlich. Das BAG entschied, dass der Arbeitgeber vor Ausspruch einer ordentlichen Kündigung nur zur Durchführung eines Präventionsverfahrens verpflichtet ist, wenn das Arbeitsverhältnis dem zeitlichen und sachlichen Geltungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes (§ 1 Abs. 1, § 23 Abs. 1) unterliegt. Da das Arbeitsverhältnis hier noch keine sechs Monate bestanden hatte, war das KSchG aber nicht anwendbar.
Begründet wird die Entscheidung des BAG mit dem Wortlaut des Gesetzes, welcher an die Terminologie des § 1 Abs. 2 KSchG anknüpft, nämlich an die dort verwendeten Begriffe „Gründe … in der Person“, „Gründe … in dem Verhalten“ und „dringende betriebliche Erfordernisse“. Die Intention des Gesetzgebers sei es gewesen, personen-, verhaltens- oder betriebsbedingte Kündigungen im Sinne des KSchG vorzubeugen. Es sei nicht ersichtlich, weshalb sich an die Begrifflichkeiten aus § 1 Abs. 2 KSchG angelehnt werde, wenn hierdurch nicht ein Bezug zu dieser Vorschrift hergestellt werden sollte.
Betont wird zudem, dass einem Arbeitnehmer während der Wartezeit (§ 1 Abs. 1 KSchG) oder in einem Kleinbetrieb (§ 23 Abs. 1 KSchG) mit Nichtdurchführung eines Präventionsverfahren keine angemessene Vorkehrung im Sinne von Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG sowie von Art. 27 Abs. 1 Satz 2 iVm Art. 2 Unterabs. 3 und 4 UN-BRK vorenthalten wird. Arbeitgeber sind hiernach verpflichtet, geeignete und im konkreten Fall erforderliche Maßnahmen zu ergreifen, um Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufes, den beruflichen Aufstieg und die Teilnahme an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zu ermöglichen, es sei denn, diese Maßnahmen würden den Arbeitgeber unverhältnismäßig belasten. Das Verfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX stelle „lediglich“ einen Suchprozess dar, mit dem angemessene Maßnahmen ermittelt werden können.
Das BAG bekräftigt mit seiner Entscheidung den Grundsatz, der sich durch alle arbeitsrechtlichen Schutzvorschriften für schwerbehinderte Menschen zieht. Diese sollen vor Benachteiligungen gegenüber nichtbehinderten Menschen geschützt, nicht aber ihnen gegenüber bevorzugt werden. Während der ersten sechs Monate des Arbeitsverhältnisses kann der Arbeitgeber gegenüber einem nichtbehinderten Menschen ohne Weiteres eine Kündigung aussprechen. Dann kann für schwerbehinderte Menschen nichts anderes gelten.
Dem BAG ist zuzustimmen, da es innerhalb der sechsmonatigen Wartezeit meist für Arbeitgeber ohnehin gar nicht möglich wäre, ein Präventionsverfahren bis zum Ablauf dieser Frist durchzuführen. Dies würde dazu führen, dass Arbeitgeber mit mehr als zehn Beschäftigten in der Wartezeit ihre Kündigungsfreiheit gegenüber schwerbehinderten und gleichgestellten Arbeitnehmern verlieren. Eine solche Regelung könnte das Risiko bergen, dass die Bereitschaft von Arbeitgebern, Arbeitsverhältnisse mit schwerbehinderten und gleichgestellten Menschen zu begründen, erheblich gemindert wird.
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