26. Januar 2024
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Der Diskussion über das Gendern kann man sich kaum entziehen. Sollte man? Muss man? Darf man? In den meisten Unternehmen – jedenfalls in solchen, die sich selbst als modern und zukunftsorientiert betrachteten – ist eine gendersensible Sprache (dankenswerterweise) längst Alltag. Im wahrsten Sinne des Wortes beginnt der Weg zur gendersensiblen Sprache mit der Anrede. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 2017 entschieden, dass es in Deutschland – neben Herr und Frau – eine dritte Option für die Anrede geben muss.
Das Bundesverfassungsgericht gab dem Gesetzgeber in dem Urteil auf, die Möglichkeit zu schaffen, im Personenstandsregister die Eintragung als „divers“ vornehmen lassen zu können. Dass eine genderneutrale Anredeoption kein „nice-to-have“ ist, sondern eine „harte“ rechtliche Verpflichtung, zeigt eine jüngere Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main (Urt. v. 21. Juni 2022 – Az. 9 U 92/20).
Beklagte war ein bekanntes – oft gescholtenes – Eisenbahnunternehmen, auf Klägerseite stand eine Person, die sich als non-binär identifizierte. Diese wollte bei der Beklagten online Fahrkarten erwerben. Bei der Online-Fahrkartenbuchung musste sie zum Fahrkartenerwerb das Geschlecht bzw. eine Anrede angeben. Zur Auswahl standen jedoch ausschließlich „Herr“ und „Frau“. Ohne die Angabe des Geschlechts konnte die Fahrkartenbuchung nicht abgeschlossen werden. Um online eine Fahrkarte erwerben zu können, musste sich non-binäre Personen also zwangsläufig zwischen für sie nicht passenden Ansprachen entscheiden. Die Geschlechtsbezeichnung „Herr“ oder „Frau“ befand sich auch auf der Fahrkarte sowie auf der Kundenregistrierung.
Die klagende Person fühlte sich dadurch benachteiligt und sah sich in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt. Mit der Klage wollte sie u.a. erreichen, dass die Beklagte es unterlässt, von Personen beim Online-Fahrkartenerwerb zwingend eine Anrede als Frau oder Mann zu verlangen. Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main gab ihr Recht:
Bei nicht vorhandener Auswahlmöglichkeit einer non-binären Ansprache kann eine unmittelbare Benachteiligung im Sinne des AGG sowie eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gemäß Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG vorliegen. Hieraus können Schadensersatzansprüche abgeleitet werden. Eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch den Zwang zu einer falschen Anrede sei zu bejahen, da dieses Recht gerade auch die geschlechtliche Identität einer jeden Person schütze.
Zwar sei der Erwerb von Online-Tickets auch für non-binäre Personen möglich gewesen. Dies jedoch nur unter falschen Angaben in Bezug auf die eigene geschlechtliche Identität und damit unter Verleugnung derselben möglich. In der fehlenden korrekten Anredemöglichkeit liege daher eine Benachteiligung gemäß § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG bei der Begründung eines zivilrechtlichen Schuldverhältnisses (hier: des Beförderungsvertrags als Massengeschäft i.S.d. § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG). Infolgedessen sprach das OLG der klagenden Person sowohl einen Unterlassungsanspruch (§ 21 Abs. 1 S. 2 AGG), als auch einen Entschädigungsanspruch in Höhe von 1000,- EUR aufgrund eines immateriellen Schadens (§ 21 Abs. 2 S. 1 AGG) zu.
In der Sache gab das Gericht zu erkennen, dass wohl grundsätzlich kein Anspruch auf eine bestimmte Anredeform besteht, eine Verletzung bestehe lediglich aufgrund der unzutreffenden Anredeform.
Auch wenn der vorliegende Fall im allgemeinen Zivilrecht spielt, ist die Situation weitgehend auf das Arbeitsrecht übertragbar, schreibt doch das Benachteiligungsverbot des § 19 AGG das Benachteiligungsverbot aus §§ 2 Abs. 1, 1 AGG fort. Es ist also ohne weiteres denkbar, dass Mitarbeitende sich die Argumentation des OLG Frankfurt zunutze machen und – gerade in einem konfliktträchtigen Arbeitsverhältnis – den Arbeitgeber in Haftung nimmt. Die Anwendungsfälle sind vielfältig: Bewerberportale, Intranetprofile, Reise- und Abrechnungsportale – sie alle enthalten möglicherweise Eingabemasken, bei denen Anredeformen vorgegeben sind.
Es ist daher jedem Unternehmen anzuraten, die Anredeformen in seinen Portalen zu kontrollieren. Hier ist es inzwischen nicht mehr nur zeitgemäß, die Auswahl zu erweitern, sondern es ist – wie das Urteil zeigt – auch rechtlich geboten.
Mehr noch: Das Urteil zeigt, wie kurz der Weg von einer nicht genderkonformen Ansprache zu einem Schadensersatzanspruch ist. Unternehmen sollten den Fokus weiten und im Rahmen eines funktionierenden Diversity-Managements sicherstellen, dass die Kommunikation im Unternehmen die Vielfalt der Belegschaft abbildet.
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Der Gesetzesentwurf des BMAS zur Arbeitszeiterfassung ist veröffentlicht. Wir beantworten erste Fragen.
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Neues und Überraschendes für die Wahlen 2022