14. August 2024
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Die Europäische Aktiengesellschaft bietet neben der Wahlmöglichkeit hinsichtlich der Verwaltungsstruktur auch eine flexible Gestaltung der Mitbestimmungsrechte. Grundsätzlich ist gem. Art. 12 Abs. 2 SE-VO i.V.m. Art. 3-7 SE-RL und §§ 4 ff. SEBG das Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren zwischen der zukünftigen Leitung der SE und den Arbeitnehmervertretern aus den EU- und EWR-Mitgliedsstaaten durchzuführen. In dem Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren wird die Mitbestimmung der Arbeitnehmer weitgehend autonom in einer Beteiligungsvereinbarung festgelegt.
Demnach kann eine SE erst nach Abschluss des Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens mit Eintragung in das Handelsregister am Rechtsverkehr teilnehmen. Eine Ausnahme hiervon stellt eine solche SE dar, die keine Arbeitnehmer in der EU oder dem EWR (auch nicht über Tochterunternehmen) beschäftigt. Mangels Arbeitnehmer ist die Durchführung eines Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens dann nicht für die Eintragung in das Handelsregister erforderlich.Ob eine SE, die ohne Arbeitnehmer gegründet und später herrschendes Unternehmen einer Tochtergesellschaft mit Arbeitnehmern wurde, das Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren nachzuholen hat, oblag der Klärung durch den EuGH aufgrund eines Vorlagebeschlusses des BAG (Beschl. v. 17.05.2022 – 1 ABR 37/20 (A)).
Der Entscheidung lag eine in Großbritannien nach dortigem Recht im Jahr 2013 gegründete Holding-SE zugrunde, die mangels Arbeitnehmer ohne Einleitungen eines Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens registriert wurde. Nach ihrer Gründung erwarb die Holding-SE alle Anteile an einer deutschen GmbH, die der Drittelmitbestimmung unterlag und anschließend in eine KG umgewandelt wurde, wobei das Mitbestimmungsrecht entfiel. Als Kommanditistin und Alleingesellschafterin der Komplementärin nahm die SE somit eine beherrschende Stellung gegenüber der KG ein. Die KG beschäftigte seinerzeit inklusive ihrer Tochtergesellschaften mehrere tausend Mitarbeiter in mehreren EU-Mitgliedsstaaten. Nach Verlegung des Sitzes der SE nach Deutschland im Jahr 2017 forderte der Konzernbetriebsrat die Verpflichtung der SE zur Initiierung des Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens gemäß §§ 4 ff. SEBG.
Der EuGH entschied mit Urteil vom 16. Mai 2024 (C-706/22), dass keine Pflicht bestehe, das Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren in dieser Konstellation nachzuholen. Dies folge weder aus den Regelungen der SE-VO noch der SE-RL, sofern nicht bereits im Zuge der SE-Gründung das besonderes Verhandlungsgremium zur Arbeitnehmerbeteiligung eingesetzt wurde. Es liege auch keine Regelungslücke vor, da der Unionsgesetzgeber im Zuge seiner Erwägungen einen entsprechenden Regelungsvorschlag aus Stabilitätsgründen zugunsten der SE verwarf und sich somit bewusst gegen eine allgemeine Nachholpflicht aussprach. Lediglich in Missbrauchsfällen käme eine Nachholpflicht des Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens ausnahmsweise in Betracht. Ein solcher Missbrauch i.S.d. Art. 11 SE-RL liege laut EuGH vor, wenn die Durchführung der Unionsregelungen nur formal erfolgt, ohne dass deren intendierte Ziele erreicht werden und zusätzlich subjektiv die Absicht besteht, sich durch künstlich geschaffene Bedingungen einen Vorteil aus den SE-Regelungen – insbesondere in Form des Entzugs oder der Vorenthaltung von Beteiligungsrechten der Arbeitnehmer – zu verschaffen.
Der EuGH hat mit seiner Entscheidung Klarheit in eine rechtlich komplexe und praxisrelevante Materie gebracht. Zwar bezog sich der Fall auf eine Holding-SE mit Sitzverlegung, doch lässt sich die Argumentation auch auf die Vorrats-SE übertragen, die ursprünglich ohne Arbeitnehmer gegründet wurde und später wirtschaftlich aktiviert wird. Die überwiegende Ansicht der Literatur, wonach ein Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren nachzuholen sei, dürfte in Anbetracht der Ausführungen des EuGH zur Entstehungsgeschichte der SE-Richtlinie und den Intentionen des Unionsgesetzgebers nicht weiter haltbar sein. Vielmehr deutet die EuGH-Rechtsprechung darauf hin, dass auch eine dauerhaft beteiligungsfreie SE unionsrechtlich möglich ist, was wiederum eine weitergehende Optimierung von Mitbestimmungsstrukturen ermöglichen könnte. Ein „Blankoscheck“ hierzu dürfte trotz der EuGH-Entscheidung nicht vorliegen. Die juristische Debatte dürfte sich nunmehr auf die Abgrenzung vom Rechtsmissbrauch und der damit verbundenen Nachholplicht des Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens verlagern. Zwar hat der EuGH abstrakte Kriterien für den Rechtsmissbrauch dargelegt, konkretisierende höchstrichterliche Rechtsprechung muss sich indes erst noch herausbilden. Es bleibt auch abzuwarten, inwieweit der deutsche Gesetzgeber die nationale Umsetzung der SE-RL mit § 43 SEBG (Missbrauchstatbestand) nachschärft. Eine Einführung eines nachträglichen Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren durch den deutschen Gesetzgeber dürfte hingegen die europäischen Rechtsgrundlagen überschreiten und daher nicht möglich sein.
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