4. September 2023
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Schwerwiegende ehrverletzende Äußerungen über Kollegen und Vorgesetze in einem privaten Gruppen-Chat können eine Kündigung grundsätzlich rechtfertigen. Das Bundesarbeitsgericht (Urteil vom 24. August 2023 – 2 AZR 17/23) entschied, dass beleidigende, rassistische, sexistische und zur Gewalt aufstachelnden Chat-Nachrichten über Betriebsangehörige bei dem äußernden Arbeitnehmer in der Regel keine berechtigte Vertraulichkeitserwartung wecken, die einer Kündigung entgegenstehen könnte. Vergleichbar zu öffentlichen Diffamierungen des Arbeitgebers auf Sozialen Plattformen kann sich ein Arbeitnehmer bei Gruppen-Nachrichten über Messaging-Dienste also nur in Ausnahmefällen auf den Grundsatz des vertraulichen Wortes (Vertraulichkeitsrechtsprechung) berufen. Der Arbeitgeber sollte im Einzelfall prüfen, welche Sanktionen arbeits- und datenschutzrechtlich zulässig sind. Ferner können Maßnahmen zum Schutz betroffener Mitarbeiter als Teil der sozialen Unternehmensstrategie (Stichwort: ESG) etabliert werden.
Der Kläger gehörte einer geschlossenen Chat-Gruppe (WhatsApp) von sieben Mitarbeitern der Beklagten an. Die langjährig befreundeten und teilweise verwandten Gruppenmitglieder tauschten sich über private Smartphones in der Chat-Gruppe nicht nur zu außerdienstlichen Themen wie familiäre Belange und Freizeitaktivitäten aus. Teilweise äußerten sie sich in beleidigender und menschenverachtender Weise über Vorgesetzte und Kollegen (der Kläger: „alle aufknüpfen“, „zionistische Herrscherlobby“, „K muss man in die Fresse hauen, so was unqualifiziertes“). Nachdem die Beklagte Kenntnis über den Chat-Verlauf erlangte, kündigte sie dem Kläger fristlos.
Der vom Kläger erhobenen Kündigungsschutzklage gaben das Arbeitsgericht Hannover (Urteil vom 24. Februar 2022 - 10 Ca 147/2) und das Landesarbeitsgericht Niedersachsen (Urteil vom 19. Dezember 2022 - 15 Sa 284/22) statt. Die Kündigung sei unwirksam, da es sich bei dem Gruppen-Chat um eine vertrauliche Kommunikation in einer geschützten Privatsphäre handele. Der Arbeitnehmer habe darauf vertrauen können, dass die Inhalte nicht an Dritte gelangen. Es handele sich um intime Inhalte, die in einer leicht überschaubaren Chat-Gruppe unter Mitgliedern mit einem besonderen Vertrauensverhältnis verschlüsselt versendet seien.
Das Bundesarbeitsgericht hob das Urteil der Vorinstanz teilweise auf und verwies die Sache zurück. Die Erwartung des handelnden Arbeitnehmers, dass seine Äußerungen vertraulich bleiben, schließe eine Kündigung nicht ohne Weiteres aus. Lediglich in Ausnahmefällen könne eine berechtigte Vertraulichkeitserwartung, die der Kündigung entgegenstünde, angenommen werden. Ob eine Chat-Gruppe ein vom Persönlichkeitsrecht geschützter Raum der Privatsphäre sei, hänge im Wesentlichen (i) vom Inhalt der Nachrichten und (ii) von der Größe sowie der personellen Zusammensetzung der Chat-Gruppe ab. Gerade im Fall von stark beleidigenden, rassistischen, sexistischen und zur Gewalt aufstachelnden Äußerungen über Betriebsangehörige bedürfe es einer besonderen Darlegung der berechtigten Erwartung, dass die Nachrichten vertraulichen bleiben.
Erstmals hatte das Bundesarbeitsgericht zu erörtern, ob ehrverletzende Äußerungen in privaten Chat-Nachrichten zu arbeitsrechtlichen Sanktionen führen können. Im Grundsatz rechtfertigen wörtliche Äußerungen über Kollegen und Vorgesetzte im engen Kollegen-, Freundes- und Familienkreis eine Kündigung nicht, denn der Arbeitnehmer kann in einem vertraulichen Gespräch darauf vertrauen, dass seine Äußerungen nicht nach außen dringen und der Betriebsfrieden bzw. das Vertrauensverhältnis zum Arbeitgeber nicht gestört wird (Vertraulichkeitsrechtsprechung). Inwieweit der Grundsatz des vertraulichen Wortes auf die schriftliche/dokumentierte Kommunikation mit mehreren Teilnehmern über Soziale Plattformen und Messaging-Diensten Anwendung findet, wird von der Rechtsprechung unterschiedlich bewertet.
Es bleibt abzuwarten, inwiefern das Bundesarbeitsgericht die Anforderungen an eine berechtigte Vertraulichkeitserwartung bei Chat-Nachrichten schärfen wird. Die Bewertung der Einzelumstände (u.a. Zusammensetzung der Gruppe) durch das Bundesarbeitsgericht ist derzeit nicht bekannt, da die Entscheidungsgründe nicht veröffentlicht sind. Die Pressemitteilung lässt jedoch erahnen, dass grob diffamierende und schwer verächtliche Nachrichten in einer siebenköpfigen Chat-Gruppe keine berechtigte Vertraulichkeitserwartung wecken können.
Arbeitgeber, die von ehrverletzenden Chat-Nachrichten eines Arbeitnehmers Kenntnis erlangen, sollten anhand der konkreten Umstände im Einzelfall die zulässigen Sanktionen prüfen. Je nach Intensität der Äußerungen könnten lediglich mildere Mittel (Ermahnung, Abmahnung) zulässig sein. Mit Blick auf die Risiken von Gerichtsverfahren wäre daher zunächst zu eruieren, ob die Chat-Nachrichten eine Kündigung als ultima ratio rechtfertigen.
Die Verwertung von Chat-Protokollen im Rahmen einer Kündigungsschutzklage dürfte prozess- und datenschutzrechtlich grundsätzlich zulässig sein. In der Regel verletzt die Verwendung der Chat-Nachrichten in einem Prozess das Persönlichkeitsrecht (informationelle Selbstbestimmungsrecht) des Versenders nicht und steht im Einklang mit den Vorschriften der DS-GVO (LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19. Juli 2021 – 21 Sa 1291/20). Denn der Arbeitgeber darf die Chat-Protokolle, die ihm von einer dritten Seite zugetragen wurden, in einem Prozess einbringen, um seine Auffassung zur Wirksamkeit der Kündigung zu bekräftigen.
Präventive Maßnahmen können Arbeitgeber ergreifen, um Beeinträchtigungen des Arbeitsumfelds durch ehrverletzende Chat-Nachrichten zu vermeiden (Stichwort: Arbeitsschutz). Die beschränkte Nutzung der Firmen-Kommunikationsmittel (z.B. interne Chat-Programme) auf dienstliche Angelegenheiten könnte einer Verbreitung von Diffamierungen/Beleidigungen im Betrieb Einhalt gebieten. Betriebliche Grundsätze zur angemessenen Kommunikation über digitale Kanäle in Form eines Verhaltens-Kodex oder einer Richtlinie zu Social-Media mögen zugleich als Orientierung für die private Nutzung dienen. Angesichts der wachsenden Bedeutung der sozialen Verantwortung von Unternehmen (ESG-Kriterien) bietet das aktuelle Urteil des Bundesarbeitsgerichts ebenfalls Anlass, die bestehenden Compliance-Systeme zu prüfen und ggf. anzupassen.
Gerne können wir Sie bei der Umsetzung der einzelnen Schritte unterstützen.
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