9. Dezember 2022
streiTWert – 25 von 65 Insights
Mit der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Kläger aus dem Vereinigten Königreich nach dem Brexit verpflichtet ist, nach § 110 ZPO Sicherheit für Prozesskosten zu leisten, haben wir uns hier im Blog mehrfach beschäftigt. Jetzt schafft der Bundesgerichtshof für eine weitere Fallgruppe Klarheit.
Der Kläger lebte jedenfalls bis Ende des Jahres 2020 im Vereinigten Königreich und verlegte seinen Wohnsitz während des Prozesses in die Schweiz. Er machte in Deutschland Schadenersatzansprüche geltend, mit denen er vor dem Landgericht und Oberlandesgericht Nürnberg. Gegen das Berufungsurteil richtete sich die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers. Erst im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde haben die Beklagten vor dem Hintergrund des Brexits beantragt, gegen den Kläger eine Prozesskostensicherheit gemäß § 110 Abs. 1 ZPO für die Kosten aller Instanzen anzuordnen. Der Kläger rügte den Antrag als verspätet. Er machte darüber hinaus geltend, gemäß § 110 Abs. 2 Nr. 1 und 2 ZPO von der Verpflichtung zur Sicherheitsleistung befreit zu sein, da er seinen Wohnsitz zum 1. Januar 2021 in die Schweiz verlegt habe.
Nach § 110 Abs. 1 ZPO haben Kläger, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt nicht in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder einem Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum haben, auf Verlangen des Beklagten wegen der Prozesskostensicherheit zu leisten. Bis 30. September 1998 erfasse der Wortlaut der Norm auch Parteien aus EU-Mitgliedstaaten; der EuGH hatte jedoch in mehreren Entscheidungen festgestellt, dass das gemeinschaftsrechtliche Diskriminierungsverbot einer Bestimmung entgegensteht, nach der Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats bei einer Klage vor einem Zivilgericht eines Mitgliedstaats Sicherheit für die Kosten zu leisten haben:
"Eine nationale zivilprozessuale Vorschrift eines Mitgliedstaats, die die Staatsangehörigen und juristischen Personen aus einem anderen Mitgliedstaat zur Leistung einer Sicherheit wegen der Prozeßkosten verpflichtet, wenn sie gegen einen seiner Staatsangehörigen oder eine dort ansässige Gesellschaft gerichtlich vorgehen wollen, fällt in den Anwendungsbereich des EG-Vertrags im Sinne des Artikels 6 Absatz 1 und unterliegt dem in diesem Artikel verankerten allgemeinen Diskriminierungsverbot, soweit sie eine - wenn auch nur mittelbare - Auswirkung auf den innergemeinschaftlichen Austausch von Gütern und Dienstleistungen hat, was namentlich der Fall sein kann, wenn sie bei Erhebung einer Klage auf Bezahlung von Warenlieferungen angewandt wird. Artikel 6 Absatz 1 EG-Vertrag verbietet es einem Mitgliedstaat bei einer Klage, die mit der Ausübung der vom Gemeinschaftsrecht gewährleisteten Grundfreiheiten zusammenhängt, von einem Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats, der bei einem Zivilgericht des ersten Mitgliedstaats eine Klage gegen einen Staatsangehörigen dieses Staates erhoben hat, die Leistung einer Sicherheit wegen der Prozeßkosten zu verlangen, wenn eine solche Sicherheitsleistung von einem Staatsangehörigen dieses Staates, der dort keinen Wohnsitz und kein Vermögen hat, nicht verlangt werden kann." (EuGH, Urteil vom 20. März 1997 - Rs. C-323–95 - Hayes gegen Kronenberger GmbH.).
Auf diese Rechtsprechung hin wurde § 110 Abs. 1 ZPO europarechtskonform geändert (Drittes Gesetz zur Änderung des Rechtspflegergesetzes und anderer Gesetze vom 6. August 1998, BGBl. I, 1998, 2030). Auch für Kläger aus Nicht-EU-Mitgliedstaaten greifen Ausnahmen: So kann nach § 110 Abs. 2 Nr. 1 ZPO keine Sicherheit verlangt werden, wenn völkerrechtliche Verträge dies ausschließen, und nach § 110 Abs. 2 Nr. 2 ZPO, wenn eine deutsche Kostenentscheidung aufgrund völkerrechtlicher Verträge vollstreckt werden würde.
Der Bundesgerichtshof kommt zu dem Ergebnis, dass der Antrag der Beklagten verspätet sei. Er äußert sich sodann – im Wege eines obiter dictum – zur Frage, ob sich Kläger mit Wohnsitz im Vereinigten Königreich und der Schweiz auf einen Befreiungstagbestand nach § 110 Abs. 2 Nr. 1 und 2 ZPO berufen können.
Die Einrede der mangelnden Sicherheitsleistung für die Prozesskosten muss grundsätzlich für alle Instanzen vor der ersten Verhandlung zur Hauptsache erhoben werden. In einer höheren Instanz ist die Einrede der mangelnden Sicherheitsleistung in einer höheren Instanz nur zulässig, wenn die Voraussetzungen für die Sicherheitsleistung erst in dieser Instanz eingetreten sind oder wenn die Einrede in den Vorinstanzen ohne Verschulden nicht erhoben worden ist. Hier fiel der Brexit in die Berufungsinstanz: Die Übergangszeit nach Art. 126 des Austrittsabkommens lief am 31. Dezember 2020 ab, das Berufungsverfahren endete aber erst im Februar 2021. Die Einrede hätte bis dann erhoben werden müssen. Entschuldigungsgründe seien nicht ersichtlich.
Der Bundesgerichtshof stellt dann klar, dass der Kläger auch bei einer rechtzeitig erhobenen Einrede nicht verspflichtet gewesen wäre, Sicherheit zu leisten. Mit dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union zum 31. Dezember 2020 seien zwar die Voraussetzungen des § 110 Abs. 1 ZPO erfüllt.
„Der Kläger ist in diesem Fall aber gemäß § 110 Abs. 2 Nr. 1 ZPO in Verbindung mit Art. 9 Abs.1 des Europäischen Niederlassungsabkommens vom 13. Dezember 1955 (…), das für das Vereinigte Königreich am 14. Oktober 1969 in Kraft getreten ist (…), von der Verpflichtung zur Leistung einer Prozesskostensicherheit befreit (…). Das Abkommen gilt für alle natürlichen Personen, die die Staatsangehörigkeit eines der Vertragsstaaten besitzen (Art. 30 Abs.1 iVm Art. 9 Abs. 1 des Europäischen Niederlassungsabkommens). Da die Befreiung von der Pflicht zur Sicherheitsleistung in § 110 Abs. 2 Nr. 1 ZPO - anders als in der bis zum 30. September 1998 geltenden Fassung - nicht von der Verbürgung der Gegenseitigkeit abhängig ist (…), wirkt sich der von der Regierung des Vereinigten Königreichs zu Art. 9 des Abkommens erklärte Vorbehalt, die Absätze 1 und 2 so anzuwenden, als seien die Worte "oder keinen Wohnsitz oder Aufenthalt im Inland" im Absatz 1 nicht enthalten (vgl. BGBl. II 1970 S. 843), nicht aus (…).“
Art. 9 Abs. 1 des Europäischen Niederlassungsabkommens lautet:
„Staatsangehörigen eines Vertragstaates, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet eines der anderen Vertragstaaten haben und die vor den Gerichten eines der Vertragstaaten als Kläger oder sonstige Verfahrensbeteiligte auftreten, darf keine Sicherheitsleistung oder Hinterlegung, wie auch immer sie bezeichnet sein mag, deshalb auferlegt werden, weil sie Ausländer sind oder keinen Wohnsitz oder Aufenthalt im Inlande haben.“
Soweit der Kläger seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Schweiz hat, kommt der Bundesgerichtshof zum gleichen Ergebnis: Auch dann besteht keine Pflicht, Sicherheit für die Kosten zu leisten. Die Befreiung gemäß § 110 Abs. 2 Nr. 2 ZPO ergibt sich aus dem Luganer Übereinkommen:
„Die Entscheidung über die Erstattung der Prozesskosten der Beklagten würde, wie in dieser Bestimmung vorausgesetzt, auf Grund eines völkerrechtlichen Vertrags – des Luganer Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 30. Oktober 2007 - in der Schweiz vollstreckt. Dieses Übereinkommen sichert auch die Wirkungserstreckung von Kostentiteln; gemäß Artikel 32 LugÜ II ist unter "Entscheidung" im Sinne des Übereinkommens, die nach dessen Art. 38 ff. zu vollstrecken ist, auch der Kostenfestsetzungsbeschluss eines Gerichtsbediensteten zu verstehen.“
Das Europäische Niederlassungsabkommen gehört zu den völkerrechtlichen Verträgen, die unter EU-Mitgliedsstaaten keine praktische Bedeutung mehr haben. Im Verhältnis zum Vereinigten Königreich hat der Brexit es aus seinem Dornröschenschlaf wachgeküsst. Mit dieser Entscheidung ist nunmehr geklärt:
Natürliche Personen aus dem Vereinigten Königreich können sich als Kläger auf Art. 9 Abs. 1 des Europäischen Niederlassungsabkommens berufen und müssen keine Sicherheit leisten. Unternehmen ist dies nicht möglich, sie sind verpflichtet, Sicherheit für die Prozesskosten zu leisten.
Der Bundesgerichtshof hatte dies bereits mit Beschluss vom 1. März 2021 – X ZR 54/19 (hier im Blog besprochen) entschieden: „Kläger mit gewöhnlichem Aufenthalt im Vereinigten Königreich haben seit dem 1. Januar 2021 nach § 110 Abs. 1 ZPO Sicherheit für die Prozesskosten zu leisten. Eine Privilegierung nach § 110 Abs. 2 Nr. 2 ZPO greift nicht ein.“ Das Europäische Niederlassungsankommen hatte das Gericht in seinem Beschluss allerdings nicht erwähnt.
Das Bundespatentgericht hatte in einer kurz danach ergangenen Entscheidung die Befreiung nach dem Europäischen Niederlassungsabkommen geprüft, aber verneint, da die Klägerin in diesem Fall ein Unternehmen war (Beschluss vom 15. März 2021 – 3 Ni 20/20 (EP); hier im Blog besprochen).
Der Weg in das Luganer Abkommen schließlich, das nicht zwischen natürlichen Personen und Unternehmen unterscheidet, steht dem Vereinigten Königreich aufgrund des Vetos der Europäischen Kommission nicht offen.
tl;dr: a) In einer höheren Instanz ist die Einrede der mangelnden Sicherheitsleistung für die Prozesskosten nur zulässig, wenn die Voraussetzungen für die Sicherheitsleistung erst in dieser Instanz eingetreten sind oder wenn die Einrede in den Vorinstanzen ohne Verschulden nicht erhoben worden ist.
b) Zur Befreiung von der Verpflichtung zur Leistung einer Prozesskostensicherheit gemäß § 110 Abs. 2 Nr. 1 ZPO in Verbindung mit Art. 9 Abs.1 des Europäischen Niederlassungsabkommens vom 13. Dezember 1955.
c) Zur Befreiung von der Verpflichtung zur Leistung einer Prozesskostensicherheit gemäß § 110 Abs. 2 Nr. 2 ZPO in Verbindung mit Art. 32, 38 ff. des Luganer Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 30. Oktober 2007.
Anmerkung zu BGH, Beschluss vom 27. September 2022 - VI ZR 68/21 -
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