13. Juni 2022
streiTWert – 37 von 65 Insights
Am 10. Juni 2022 hat das vom Bundestag bereits am 19. Mai 2022 beschlossene Gesetz zur Durchführung der EU-Verordnungen über grenzüberschreitende Zustellungen und grenzüberschreitende Beweisaufnahmen in Zivil- oder Handelssachen auch den Bundesrat passiert. Damit wird nicht nur das nationale Recht an die Neufassungen der EuZVO und der EuBO angepasst, die zum 1. Juli 2022 in Kraft treten. Deutschland lässt damit auch erstmals Rechtshilfe für die „pre-trial discovery of documents“, also für die Verlangen auf Dokumentenherausgabe, wie sie insbesondere aus US-amerikanischen Verfahren bekannt sind.
Die Behandlung von Rechtshilfeersuchen, die die “pre-trial discovery of documents“ betreffen, ist ein Dauerthema, seit die Bundesrepublik 1977 das HBÜ ratifizierte (dazu näher auch hier). Deutschland erklärte einerseits wie etliche andere „civil law“-Rechtsordnungen den Vorbehalt nach Artikel 23 HBÜ, wonach Rechtshilfeersuchen nicht erledigt werden, „die ein Verfahren zum Gegenstand haben, das in den Ländern des ‚Common Law‘ unter der Bezeichnung ‚pre-trial discovery of documents‘ bekannt ist.“
Andererseits sah § 14 HZÜ/HBÜ-AusfG bis zur nunmehr beschlossenen Änderung vor, dass Ersuchen, die ein Verfahren nach Artikel 23 HBÜ zum Gegenstand haben erledigt werden können, wenn weder „die tragenden Grundsätze des deutschen Verfahrensrechts“ noch „schutzwürdigen Interessen der Betroffenen“ entgegenstehen. Allerdings sollte dies nur gelten, nachdem Details in einer Verordnung geregelt wurden.
Von der Verordnungsermächtigung in § 15 HZÜ/HBÜ-AusfG wurde nie Gebrauch gemacht. Ein Anlauf aus dem Jahr 1989, eine solche Verordnung zu erlassen, scheiterte am Widerstand der Länder. Eine Initiative des Bundesjustizministeriums mündete 2016 in einen Gesetzesvorschlag, der dem nunmehr beschlossenen Text weitgehend entsprach, aber im Rechtsausschuss des Bundestags scheiterte.
§ 14 HZÜ/HBÜ-AusfG sieht nunmehr vor, dass auf die „pre-trial discovery of documents“ gerichtete Rechtshilfeersuchen erledigt werden, wenn
„1. die vorzulegenden Dokumente im Einzelnen genau bezeichnet sind,
2. die vorzulegenden Dokumente für das jeweilige Verfahren und dessen Ausgang von unmittelbarer und eindeutig zu erkennender Bedeutung sind,
3. die vorzulegenden Dokumente sich im Besitz einer an dem Verfahren beteiligten Partei befinden,
4. das Herausgabeverlangen nicht gegen wesentliche Grundsätze des deutschen Rechts verstößt.“
Soweit personenbezogene Daten betroffen sind, müssen zudem die datenschutzrechtlichen Anforderungen an die Übermittlung in ein Drittland erfüllt sein.
Die Regierungsbegründung führt dazu aus, dass aufgrund des uneingeschränkten deutschen Vorbehalts nach Artikel 23 HBÜ bestimmte Dokumentenvorlagen für rein nationale deutsche Gerichtsverfahren zulässig seien, im Rahmen eines Rechtshilfeersuchens jedoch unzulässig. Diese Diskrepanz habe sich mit der Einführung von § 142 ZPO im Jahr 2001 verschärft.
„Der Entwurf sieht daher vor, dass die Bundesrepublik Deutschland nunmehr dem Beispiel anderer Vertragsstaaten des HBÜ folgend Ersuchen um „pre-trial discovery of documents“ ausdrücklich unter engen Voraussetzungen zulässt, wie es auch schon mehrfach Spezialkommissionen der Haager Konferenz zum HBÜ empfohlen haben (so etwa im Jahre 2003 und zuletzt im Jahre 2014).
Die hier erneut vorgeschlagene Neufassung des § 14 HZÜ/HBÜ AusfG sichert die Rechte deutscher Prozessparteien in hinreichendem Umfang. Denn hiernach müssen Dokumentenvorlageersuchen ausreichend konkret sein, also vor allem die Urkunden angeben, die geprüft werden sollen (…). Insbesondere pauschale Ersuchen um Vorlage ganzer Dokumentensammlungen brauchen weiterhin nicht erledigt zu werden. Erledigungsfähig sind nur solche Ersuchen, die die vorzulegenden Dokumente und ihre Bedeutung für das konkrete Verfahren im Einzelnen bezeichnen.“
Die Max-Planck-Institute in Luxembourg und Hamburg hatten in ihrer Stellungnahme zum Gesetzentwurf vorgeschlagen, die in § 14 Nr. 3 HZÜ/HBÜ-AusfG enthaltene Beschränkung auf Dokumente im Besitz von Verfahrensbeteiligten zu streichen. Denn Dritte könnten in deutschen Verfahren nach § 142 Abs. 2 ZPO zur Vorlage verpflichtet werden, wenn ihnen diese zumutbar ist und sie sich nicht auf ein Zeugnisverweigerungsrecht berufen können. Diese Regelung lasse sich auch in den Kontext des HBÜ übertragen. Diesem Vorschlag ist der Gesetzgeber nicht gefolgt. Es bleibt zu hoffen, dass der Gesetzgeber bei einer Evaluation der nunmehr beschlossenen Änderung diesen Aspekt in einigen Jahren nochmals überdenkt.
Die Modifikation des Vorbehalts gegen die „discovery of documents“ ist zu begrüßen. Zum einen handelt es sich um eine überfällige Modernisierung des Beweishilferechts. Sofern sich die Erwartung der deutschen Seite erfüllt, dass insbesondere US-Gerichte aufgrund dieser Änderung den Weg über das HBÜ gehen (siehe hier), schafft sie zum anderen mehr Rechtssicherheit für deutsche Parteien, die sich einem „discovery“-Ersuchen ausgesetzt sehen. Zwar überwiegen in der Praxis die Rechtshilfeersuchen aus den USA. In Folge des „Brexit“ ist das HBÜ aber auch im Verhältnis zum Vereinigten Königreich von neuer Bedeutung.
Bereits im Mai 2021 haben Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz erstmals eine unmittelbare Aufnahme eines Zeugenbeweises durch eine Beauftragte („Commissioner“) eines US-Bundesgerichts nach Art. 17 des HBÜ anstelle der Vernehmung durch die deutsche Rechtshilferichterin gestattet. Zugleich wurde die Videoübertragung der Zeugeneinvernahme in die USA erlaubt.
Zusammen mit der Neufassung von § 14 HZÜ/HBÜ-AusfG erfährt die Rechthilfe nach dem HBÜ damit in praktischer und in legislativer Hinsicht den größten Modernisierungsschub seit dem Beitritt Deutschlands zum HBÜ.
Diesen und weitere Beiträge von Peter Bert finden Sie auch auf zpoblog.de.
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