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Florian Lambracht

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9. September 2021

streiTWert – 42 von 55 Insights

BGH: Wie viel Arzthaftung steckt in der Produkthaftung?

  • In-depth analysis

Welche Anforderungen sind im Produkthaftungsprozess wegen Medizinprodukten an den Vortrag des klagenden Patienten zu medizinischen Fragen zu stellen? Wie weit kann der (rechtliche) Schutz des Patienten gehen, ohne dem Hersteller eines Medizinprodukts die Chance auf eine faire Verteidigung zu nehmen? In einer Entscheidung vom 16. Februar 2021, Az. IV ZR 1104/20 hat sich der BGH letztlich auf die Seite der Patientin geschlagen und erklärt, an den Klägerinnenvortrag dürften „keine überhöhten Anforderungen“ gestellt werden.

Sachverhalt

Die Klägerin macht Schadenersatzansprüche nach dem ProdHaftG gegen die Beklagte als Herstellerin einer Hüftendoprothese geltend. Sie ist der Auffassung, die ihr implantierte Prothese sei fehlerhaft, weil sie einen ausgeprägten Metallabrieb aufweise und die zu erwartende Abriebmenge deutlich überschritten werde.

Die Vorinstanzen

Ein Produkt ist nach § 3 ProdHaftG fehlerhaft, wenn es nicht die Sicherheit bietet, die unter Berücksichtigung aller Umstände berechtigterweise erwartet werden kann. Das Landgericht München I hat einen Fehler des Produkts verneint. Das Oberlandesgericht München hat das Urteil bestätigt und stützt dies auf Ausführungen der toxikologischen Sachverständigen, wonach die im Blut der Klägerin nachgewiesene Metallbelastung weit unterhalb eines Referenzwertes für Endoprothesenträger gelegen habe. Auch habe eine Metallose – das unnatürliche Vorkommen von metallischen Abrieb im menschlichen Körper – nicht festgestellt werden können.

Die Klägerin wandte in der Berufung erfolglos ein, dass weiterer Beweis durch ein orthopädisches Gutachten hätte erhoben werden müssen. Ein toxikologisches Gutachten sei zur Beantwortung der Frage, ob ein Pseudotumor durch den behaupteten Produktfehler (gesteigerter Metallabrieb) hervorgerufen wurde, nicht ausreichend. Die Klägerin legte ein ärztliches Attest vor, dass ihr rezidivierende „typische Symptome“ eines Pseudotumors bescheinigte. Aus dem Attest wurde allerdings nicht ersichtlich, worauf diese Feststellung beruhte und wie sich diese Symptome konkret darstellten. Die Klägerin behauptete zudem, dass der Körper Metalldepots bilden könne, die nicht in Blutuntersuchungen zu erkennen seien.

Doch das Oberlandesgericht sah die Einholung eines orthopädischen Gutachtens nicht als geboten an. Es wies den Vortrag als unsubstantiiert zurück, denn die Klägerin habe keine belastbaren Befunde vorgelegt, die ihre Behauptung stützen würden. Auf Grundlage des toxikologischen Sachverständigengutachtens bestehe kein Grund zur Annahme einer Metallose.

Entscheidung des Bundesgerichtshofs

Der BGH hat das Berufungsurteil aufgehoben und den Rechtsstreit zur weiteren Sachverhaltsaufklärung an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.
Der BGH stellte fest, dass das Oberlandesgericht durch die „offenkundig unrichtig überhöhte Anforderungen an die Substantiierungspflicht der Klägerin“ den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt.

Bemerkenswert ist die Entscheidung des BGH, da er in seinen Ausführungen zur Substantiierungspflicht auf im Arzthaftungsrecht entwickelte Grundsätze zurückgreift und diese im Produkthaftungsrecht anwendet:

  • Im Arzthaftungsprozess dürfen nach ständiger Rechtsprechung nur maßvolle Anforderungen an die Substantiierungspflicht des Patienten gestellt werden, weil vom Patienten regelmäßig keine genaue Kenntnis der medizinischen Vorgänge erwartet und gefordert werden kann und er nicht verpflichtet ist, sich zur Prozessführung medizinisches Fachwissen anzueignen.
  • Einwendungen gegen gerichtliche Gutachten können zunächst ohne sachverständige Hilfe vorgebracht werden.
  • Es dürfen keine hohen Anforderungen an den Sachvortrag bzw. Einwendungen gegen ein Sachverständigengutachten gestellt werden. Vielmehr darf sich die Partei darauf beschränken, von ihr zunächst nur vermutete Tatsachen vorzutragen.

 

Diese Grundsätze seien auf Fälle außerhalb des Arzthaftungsrechts zu übertragen, wenn ein Erfolg versprechender Parteivortrag fachspezifische Fragen beträfe und besondere Sachkunde erfordere.

Rechtliche Einordnung

Die Entscheidung des BGH verdeutlicht das Spannungsverhältnis, in dem die Gerichte im medizinischen Produkthaftungsrecht stehen. Einerseits sollen sie laut BGH keine überhöhten Anforderungen an die Substantiierungspflicht eines Patienten stellen, andererseits kann nicht jeder Vortrag ausreichen, um das Gericht zur weiteren Sachverhaltsaufklärung zu verpflichten, da dies dem Ausforschungsbeweis Tür und Tor öffnen würde.

Dem Arzthaftungsrecht und dem Produkthaftungsrecht liegen unterschiedliche Haftungssysteme und Erwägungen zugrunde. Arzthaftung ist Verschuldenshaftung, Produkthaftung ist hingegen verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung. Ein Schadenersatzanspruch nach dem ProdHaftG erfordert lediglich einen für einen Schaden kausalen Produktfehler.

Der Gegensatz von möglicher Exkulpation im Arzthaftungsecht im Vergleich zur verschuldensunabhängigen Haftung im Produkthaftungsrecht hat auch Einfluss auf die jeweilige Beweislast. Während im Arzthaftungsrecht der Arzt beweisbelastet für die ausreichende Aufklärung des Patienten ist, liegt nach § 1 Abs. 4 ProdHaftG die Beweislast für Produktfehler, Schaden und Kausalzusammenhang beim Kläger. Diese unterschiedliche Risikoverteilung trägt dem gegensätzlichen Kenntnisstand der Beteiligten im Arzthaftungs- und Produkthaftungsrecht Rechnung. Im Arzthaftungsprozess ist der beklagte Arzt sehr nah am Sachverhalt dran und verfügt über eigene Sachkunde, wohingegen der Patient regelmäßig keine genaue Kenntnis der medizinischen Vorgänge hat. Aus diesem Grund werden im Arzthaftungsprozess nur maßvolle Anforderungen an die Substantiierungspflicht des Patienten gestellt. In produkthaftungsrechtlichen Fallkonstellationen stellt sich dieses Informationsgefälle oftmals anders dar. Der beklagte Hersteller kennt den individuellen Sachverhalt nicht bzw. weiß nicht, wieso der Kläger aus bestimmten Umständen auf das Vorliegen eines Produktfehlers schließen möchte. Ihm sind die Umstände der Anwendung des Produktes, die Schadensentwicklung und andere in der Sphäre des Klägers liegende Umstände, wie im Falle der Produkthaftung wegen Medizinprodukten etwaige Vorerkrankungen, Indikation, OP-Verläufe etc., unbekannt.

Auch im Arzthaftungsrecht wird oftmals gefordert, dass der Patient, der einen Behandlungsfehler vermutet, wenigstens die Verdachtsgründe mitteilen muss. Wie sonst soll sich ein Hersteller gegen behauptete Ansprüche und die behauptete Fehlerhaftigkeit wehren können?
Eine interessengerechte Abwägung zwischen dem Schutz des klagenden Patienten (keine überhöhten Anforderungen an die Substantiierungspflicht) und dem Aufrechterhalten einer fairen Verteidigungschance für den beklagten Hersteller (kein Ausforschungsbeweis) ist gerade in Produkthaftungsfällen mit medizinischen Fragestellungen nicht einfach. Allerdings überrascht es, dass der BGH im vorliegenden Fall zu dem Schluss gelangt, dass die Anforderungen „offenkundig“ überhöht waren. Denn es handelt sich zwar bei einem Vorliegen eines Pseudotumors durch überhöhten Metallabrieb um eine medizinische Fragestellung, dies allerdings eingekleidet im produkthaftungsrechtlichen Haftungssystem.

Vorliegend wurde mit Hilfe eines einfachen ärztlichen Attests, dem keine Begründung zu entnehmen ist und das die aufgeführten „typischen Symptome eines Pseudotumors“ auch nicht näher beschreibt, ein Sachverständigengutachten in Zweifel gezogen, demzufolge es keinen Anlass für eine gesteigerte Metallkonzentration im Blut als Folge des angeblich fehlerhaften Implantats gab. Es ist daher zweifelhaft, ob die Entscheidung des BGH dem individuellen Fall und den Unterschieden der Haftungssysteme in der Arzt- sowie der Produkthaftung gerecht wird.

Der Produkthaftung ist es immanent, dass der Kläger im Vergleich zum Hersteller nicht über entsprechende Kenntnisse oder das erforderliche Fachwissen verfügt. Wenn künftig aber blankoartige ärztliche Atteste ausreichen sollen, gerichtliche Sachverständigengutachten in Zweifel zu ziehen oder gar weitere Gutachten zu erzwingen, erlaubt man dem Kläger, das Gericht auf die Suche zu schicken, ob sich nicht doch noch irgendetwas finden lässt, das die Klage begründen könnte.

Jedenfalls darf diese Einzelfallentscheidung nicht falsch eingeordnet werden. Denn es kann keinesfalls darum gehen, dass Patienten in Produkthaftungsklagen generell und zu sämtlichen Anspruchsvoraussetzungen eine geringere Substantiierungspflicht eingeräumt wird. Es gibt keinen Grund, nicht alles in ihrer Sphäre substantiiert vorzutragen. Dies bleibt auch wichtig, da der Hersteller – anders als der Arzt – dies nicht alles wissen kann und sich daher ohne substantiierten Vortrag des Klägers, ohne Vorlage der einschlägigen Krankenunterlagen sowie medizinischen Befunde nicht richtig verteidigen kann. Daher ist die im Medizinprodukthaftungsprozess wie auch im Arzthaftungsprozess häufig zu beobachtende Praxis von Gerichten unangebracht, gleich zu Beginn des Prozesses Sachverständige zu beauftragen, um auf Grundlage eines Beweisbeschlusses erst einmal den Sachverhalt zu ermitteln. Im Produkthaftungsprozess kann der beklagte Hersteller erwarten, dass der Kläger – wie sonst auch – den potentiell relevanten Sachverhalt substantiiert vorträgt, jedenfalls soweit er in dessen Sphäre liegt.

Ein allgemeiner Freibrief für Kläger ist (auch) mit der Entscheidung des BGH nicht verbunden. Denn ein Produkthaftungsprozess wegen medizinischer Produkte bleibt ein Produkthaftungsprozess und kein Arzthaftungsprozess durch die Hintertür.

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