19. Mai 2022
streiTWert – 47 von 73 Insights
Für die zivilrechtliche Haftung des Vorstands ist die Business Judgement Rule („BJR“) der wesentliche Maßstab. Nun hat der Bundesgerichtshof in seinem Urteil vom 10. Februar 2022 (Az. 3 StR 329/21) klargestellt, dass die strafrechtliche Verantwortlichkeit in gleicher Weise anhand der BJR beurteilt wird. Damit bestätigt der BGH einen Gleichlauf des Tatbestandmerkmals der Pflichtverletzung im Aktienrecht (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG) und im Untreuestraftatbestand (§ 266 StGB). Auch für die strafrechtliche Verantwortung gilt:
„Für den Vorstand einer Aktiengesellschaft besteht ein weiter Beurteilungs- und Entscheidungsspielraum, der voll ausgeschöpft werden darf, solange sich die Entschließung einerseits am Unternehmenswohl ausrichtet und andererseits keine völlig unvertretbaren Risiken beinhaltet. Es gilt stets das Leitbild des "ordentlichen Kaufmanns".“
Der Angeklagte schloss als Vorstand der Muttergesellschaft zwei Beraterverträge mit dem Ziel der Veräußerung von Aktien an eine Tochtergesellschaft. Der Aktienverkauf kam ohne Mitwirkung der beiden Berater zustande. Die gleichwohl gestellten Erfolgshonorarrechnungen bezahlte der Angeklagte. Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf der Untreue aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Die Revision der Staatsanwaltschaft hielt der BGH für begründet.
Dem Vorstand einer Aktiengesellschaft billigt der BGH bei der Leitung der Geschäfte eines Unternehmens einen weiten Handlungsspielraum zu. Ohne den sei eine unternehmerische Tätigkeit schlechterdings nicht denkbar. Dazu gehöre neben dem bewussten Eingehen geschäftlicher Risiken grundsätzlich auch die Inkaufnahme der Gefahr, bei der wirtschaftlichen Betätigung Fehlbeurteilungen und Fehleinschätzungen zu unterliegen. Eine Pflichtverletzung liege erst dann vor, so der BGH, wenn die Grenzen, in denen sich ein von Verantwortungsbewusstsein getragenes, ausschließlich am Unternehmenswohl orientiertes, auf sorgfältiger Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen beruhendes unternehmerisches Handeln bewegen müsse, überschritten seien. Des Weiteren, wenn die Bereitschaft, unternehmerische Risiken einzugehen, in unverantwortlicher Weise überspannt würden oder das Verhalten des Vorstands aus anderen Gründen als pflichtwidrig gelten müsse. Diese zum Aktienrecht entwickelten, mittlerweile als BJR in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG kodifizierten Grundsätze seien laut BGH auch Maßstab für das Vorliegen einer Pflichtverletzung im Sinne des Untreuetatbestands (§ 266 Abs. 1 StGB).
Eine Entscheidung auf unzulänglicher Tatsachengrundlage könne eine solche Pflichtverletzung indizieren, führt der BGH aus. Diese sei letztlich nur dann zu bejahen, wenn ein schlechthin unvertretbares Vorstandshandeln vorliege; der Leitungsfehler müsse sich auch einem Außenstehenden förmlich aufdrängen.
Zur Reichweite der Informationspflichten von Vorstandsmitgliedern erkannte der BGH an, dass grundsätzlich in der konkreten Entscheidungssituation alle verfügbaren Informationsquellen tatsächlicher und rechtlicher Art auszuschöpfen seien, um auf dieser Grundlage die Vor- und Nachteile der bestehenden Handlungsoptionen sorgfältig abschätzen und den erkennbaren Risiken Rechnung tragen zu können. Die konkrete Entscheidungssituation sei der Bezugsrahmen des Ausmaßes der Informationspflichten. Dementsprechend sei es nach Ansicht des BGH notwendig, aber auch ausreichend, dass sich der Vorstand eine unter Berücksichtigung des Faktors Zeit und unter Abwägung der Kosten und Nutzen weiterer Informationsgewinnung "angemessene" Tatsachenbasis verschaffe; je nach Bedeutung der Entscheidung sei eine breitere Informationsbasis rechtlich zu fordern. Dem Vorstand stehe letztlich ein dem konkreten Einzelfall angepasster Spielraum zu, den Informationsbedarf zur Vorbereitung seiner unternehmerischen Entscheidung selbst abzuwägen. Ausschlaggebend sei nach Ansicht des BGH dabei nicht, ob die Entscheidung tatsächlich auf der Basis angemessener Informationen getroffen worden sei und dem Wohle der Gesellschaft diente. Es reiche demnach aus, dass der Vorstand dies vernünftigerweise annehmen durfte. Die Beurteilung des Vorstands im Zeitpunkt der Entscheidungsfindung müsse aus der Sicht eines ordentlichen Geschäftsleiters vertretbar erscheinen.
Da sich die Urteilsgründe insoweit als lückenhaft erwiesen, hob der BGH das Urteil auf und verwies die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung einer anderen Strafkammer des Landgerichts zurück. Insbesondere fehlten dem BGH Feststellungen dazu, aufgrund welcher Informationslage der Angeklagte die Überweisungen veranlasste. Es bliebe offen, ob und gegebenenfalls wie sich der Angeklagte etwa über die Berechtigung der Forderungen und das Risiko eines angedrohten Rechtsstreits informierte beziehungsweise in der konkreten Situation hätte informieren müssen.
Das A und O zur Haftungsvermeidung bei unternehmerischen Entscheidungen sowohl in zivilrechtlicher als auch in strafrechtlicher Hinsicht ist auch nach dem hier erläuterten BGH-Urteil eine angemessene Informationsgrundlage und die Dokumentation der Entscheidungsfindung.
Bestehen hinsichtlich einer Rechtsfrage Unsicherheiten erkennt der BGH übrigens ein „Legal Judgement Rule“ nicht an. Vielmehr muss der Vorstand, um die ihm obliegende Pflicht zur Prüfung der Rechtslage zu genügen und er selbst nicht über die erforderliche Sachkunde verfügt, unter umfassender Darstellung der Verhältnisse der Gesellschaft und Offenlegung der erforderlichen Unterlagen von einem unabhängigen, für die zu klärende Frage fachlich qualifizierten Berufsträger beraten lassen und die erteilte Rechtsauskunft einer sorgfältigen Plausibilitätskontrolle unterziehen. Die Rechtsauskunft muss dabei schriftlich erfolgen. Soweit die Fachexpertise in der Rechtsabteilung vorhanden ist, kann deren Prüfung ausreichen. Und selbstverständlich sollte dieser Prozess der Prüfung der Rechtslage dokumentiert werden.
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