23. Februar 2024
streiTWert – 5 von 64 Insights
Die neue EU-Produkthaftungsrichtlinie wird in Kürze erwartet. Sie soll die aktuelle Produkthaftungsrichtlinie 85/374/EWG, die noch aus dem Jahr 1985 stammt, vollständig ersetzen. Hintergrund ist, dass sich die Herstellung und der Vertrieb von Produkten seither erheblich verändert haben. Zudem soll die Richtlinie die zunehmend wichtigen neuen digitalen Technologien wie Software und Systeme künstlicher Intelligenz (KI-Systeme) erfassen. Im Folgenden geben wir einen Überblick über den Stand des Gesetzgebungsverfahrens und die wichtigsten Neuerungen des finalen Entwurfs.
Die Europäische Kommission hatte am 28. September 2022 einen Entwurf für eine neue Produkthaftungsrichtlinie veröffentlicht. Am 14. Dezember 2023 haben sich die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und der Rat nach verschiedenen Stellungnahmen und Verhandlungen politisch geeinigt. Der final compromise text wurde am 18. Januar 2024 veröffentlicht und zuletzt am 24. Januar 2024 durch den Rat bestätigt. Der finale Entwurf liegt nun beim Europäischen Parlament, das voraussichtlich Mitte März 2024 darüber berät. Vorbehaltlich der Zustimmung des Parlaments wird die neue EU-Produkthaftungsrichtlinie also voraussichtlich bald verabschiedet.
Der Anwendungsbereich der Richtlinie soll erweitert werden und zukünftig ausdrücklich Software und digitale Produktionsdateien (z.B. für 3D-Drucker) als „Produkte“ erfassen. Dies gilt sowohl für Software, die in einem anderen Produkt integriert ist (z.B. Navigationsdienst in einem autonomen Fahrzeug) als auch für eigenständige Software (z.B. Smartphone-App für Medizinprodukte), die selbst Schäden verursachen kann. Neu gegenüber dem Kommissionsentwurf ist die Klarstellung, dass die Richtlinie nicht für kostenfreie oder open-source Software gilt, die nicht geschäftlich zur Verfügung gestellt wird.
Nach der neuen Produkthaftungsrichtlinie sollen zukünftig auch Bevollmächtigte des Herstellers, Fulfillment-Dienstleister (d.h. Lager-, Verpackungs- und Versanddienstleister) und – unter engen Voraussetzungen – sogar Einzelhändler und Betreiber von Online-Marktplätzen verschuldensunabhängig haften können. Damit erweitert der Entwurf den Kreis der potenziellen Beklagten deutlich über die bisher in Betracht kommenden Hersteller, sogenannten Quasi-Hersteller und EWR-Importeure hinaus. Hierdurch soll sichergestellt werden, dass der geschädigten Person auch dann ein Beklagter zur Verfügung steht, wenn das fehlerhafte Produkt direkt aus einem Nicht-EU-Land gekauft wurde, und es keinen (Quasi-)Hersteller oder Importeur mit Sitz in der EU gibt. Außerdem sollen zukünftig auch Unternehmen, die ein Produkt eigenständig „wesentlich verändern“, verschuldensunabhängig als Hersteller haften können.
Anders als noch im Kommissionsentwurf ist ein Produkt nach dem finalen Entwurf fehlerhaft, wenn es nicht den berechtigten Sicherheitserwartungen „einer Person“ entspricht („the safety that a person is entitled to expect“). Diese Formulierung ist missverständlich, da bislang die Sicherheitserwartungen der Allgemeinheit maßgeblich sind. Wir gehen jedoch davon aus, dass diese Änderung nur sprachlicher Natur ist. Die Erwägungsgründe des finalen Entwurfs stellen klar, dass es auf eine objektive Analyse der Sicherheit ankommt, die die Allgemeinheit berechtigterweise erwarten kann, und nicht auf die subjektive Sicht einer Person.
Darüber hinaus berücksichtigt der Fehlerbegriff der neuen Richtlinie noch stärker die Anforderungen des Produktsicherheitsrechts. So kann ein Produkt nach dem Entwurf beispielsweise fehlerhaft sein, weil erforderliche Software-Updates fehlen, um Schwachstellen bei der Cybersicherheit des Produkts zu beheben. Zudem soll auch ein Eingriff einer Regulierungsbehörde im Zusammenhang mit der Produktsicherheit, z.B. ein Produktrückruf, für die Fehlerhaftigkeit des Produkts sprechen. Neu gegenüber dem Kommissionsentwurf soll zudem bei Produkten, deren Zweck gerade darin besteht, Schäden zu verhindern, jede Nichterfüllung dieses Zwecks für einen Produktfehler sprechen. Der EU-Gesetzgeber hat hierbei insbesondere Rauchmelder im Blick. Womöglich wäre dies aber auch für medizinische Implantate wie Herzschrittmacher relevant, für die nach einem EuGH-Urteil von 2015 zum sog. „Fehlerverdacht“ bereits besonders hohe Anforderungen gelten.
Bislang muss der Kläger den Produktfehler, den Schaden und den Kausalzusammenhang zwischen beiden beweisen. Der finale Entwurf hält an diesem Grundsatz fest, sieht zugunsten des Anspruchstellers aber erhebliche Beweiserleichterungen vor.
So soll zukünftig unter anderem sowohl die Fehlerhaftigkeit des Produkts als auch der Kausalzusammenhang zwischen dem Produktfehler und dem Schaden (widerlegbar) vermutet werden können, wenn trotz der Offenlegung von Informationen durch das Unternehmen und unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zwei Voraussetzungen vorliegen:
Der finale Entwurf wirft hierzu wie bereits der Kommissionsentwurf viele Fragen auf und lässt weiterhin offen, wann die Beweisführung „übermäßig schwierig“ sein soll und welche Anforderungen an den Nachweis eines „wahrscheinlichen“ Produktfehlers oder Ursachenzusammenhangs zu stellen sind.
Nach dem finalen Entwurf soll der Beklagte künftig auf Antrag des Klägers in einem Gerichtsverfahren die in seiner Verfügungsgewalt befindlichen relevanten Beweismittel offenlegen müssen („disclosure of evidence“). Damit möchte die Richtlinie Nachteilen der geschädigten Person hinsichtlich des Zugangs zu Informationen über die Herstellung und Funktionsweise des Produkts begegnen.
Die Neuerung ist insoweit ungewöhnlich, als dass sich der EU-Gesetzgeber aus dem Verfahrensrecht der Mitgliedstaaten im Bereich der Produkthaftung bislang weitestgehend rausgehalten hat. Eine solche Offenlegung von Beweismitteln ist außerhalb von Common Law-Staaten bislang auch unüblich. Folgt man dem Wortlaut des Entwurfs, würde dies über die in Deutschland bislang geltenden Möglichkeiten (§ 142 ZPO) deutlich hinausgehen. Denn in ihrer jetzigen Form wäre die Offenlegungspflicht wohl nicht auf Urkunden beschränkt. Anders als noch im Kommissionsentwurf sieht der finale Entwurf nun aber immerhin auch eine entsprechende Offenlegungspflicht des Klägers vor, falls der Beklagte dies beantragt.
Wichtig ist, dass die Gerichte Maßnahmen ergreifen müssen, um Geschäftsgeheimnisse des Beklagten zu schützen. Damit die Offenlegungspflicht greift, muss der Kläger zudem ausreichend Tatsachen vorgetragen und Beweismittel vorgelegt haben, die einen Schadenersatzanspruch plausibel erscheinen lassen. Ferner soll die Offenlegung von Beweismitteln auf ein erforderliches und verhältnismäßiges Maß beschränkt sein. Schon die Kommission war bemüht, eine exzessive und sehr aufwendige Ausforschung oder „Discovery“, wie man sie aus dem angloamerikanischen Zivilprozessrecht kennt, zu vermeiden. Es bleibt abzuwarten, ob dies gelingen wird. Die Voraussetzungen und der Umfang der neuen Offenlegungspflicht erscheinen bislang noch unbestimmt.
Der finale Entwurf erweitert wie schon der Kommissionsentwurf den ersatzfähigen Schaden auf den Verlust und die Verfälschung von Daten, die nicht ausschließlich für berufliche Zwecke verwendet werden. Zudem sollen die bisherigen Selbstbehalte und Haftungshöchstgrenzen entfallen.
Der finale Entwurf schränkt bislang vorgesehene Haftungsausschlüsse zum Teil weiter ein. Im Grundsatz haftet ein Hersteller nicht, wenn der Fehler zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens des Produkts wahrscheinlich noch nicht bestanden hat. Dies soll bei später aufgetretenen Produktfehlern jedoch nicht mehr gelten, die auf die unter der Kontrolle des Herstellers stehende Software oder damit verbundene Dienstleistungen zurückzuführen sind. Etwa wenn es der Hersteller nach Inverkehrbringen des Produkts unterlässt, erforderliche Software-Updates bereitzustellen. Die Produkthaftung wird damit für Software in den Post-Marketing-Bereich ausgeweitet.
Darüber hinaus bleibt es zwar wie bislang geltend dabei, dass Produkthaftungsansprüche grundsätzlich 10 Jahre nach Inverkehrbringen des Produkts erlöschen. Falls sich eine Gesundheitsschädigung der Person aber erst latent entwickelt, erweitert der finale Entwurf diese Ausschlussfrist auf 25 Jahre. Dies sind 10 Jahre mehr als nach dem vorherigen Kommissionsentwurf.
Falls das Europäische Parlament in seiner Sitzung im März 2024 keine Änderungswünsche hat, wird die neue EU-Produkthaftungsrichtlinie zeitnah formell verabschiedet und im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht. Die Richtlinie tritt am zwanzigsten Tag nach der Veröffentlichung in Kraft. Die Mitgliedstaaten müssen die Richtlinie dann innerhalb von 24 Monaten in ihr nationales Recht umsetzen.
Die neuen Regelungen gelten also voraussichtlich ab dem Jahr 2026. Für Produkte, die schon vorher in den Verkehr gebracht wurden, gilt weiterhin die alte Produkthaftungsrichtlinie 85/237/EWG.
Die neue EU-Produkthaftungsrichtlinie verschärft das Produkthaftungsregime in Europa und reduziert die Rechtssicherheit für Unternehmen. Zukünftig müssen sich auch Wirtschaftsakteure, die bislang keinem Produkthaftungsrisiko ausgesetzt waren, intensiver mit haftungsrechtlichen Fragen der Produktverantwortung befassen. Für die Prozesspraxis der Produkthaftung bleibt es insbesondere spannend, wie die recht unbestimmte Beweiserleichterung zu Gunsten des Klägers „in komplexen Fällen“ und die Pflicht des Beklagten zur Offenlegung „relevanter Beweismittel“ von den Mitgliedstaaten umgesetzt wird. Zu begrüßen ist, dass nach dem finalen Entwurf nunmehr auch der Beklagte die Offenlegung von Beweismitteln durch den Kläger verlangen kann und die Offenlegungspflicht damit – anders als noch im Kommissionsentwurf – nicht nur einseitig für den Beklagten gilt.
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