9. Juni 2022
streiTWert – 28 von 55 Insights
Mit dem Krieg zwischen Russland und der Ukraine gehen nicht nur zivilrechtliche Folgen wegen der gegen Russland verhängten Sanktionen einher. Die Auswirkungen haben sich längst im täglichen Leben bemerkbar gemacht. Die Preise für Rohstoffe sind in einem Maße gestiegen, wie seit Jahrzehnten nicht mehr, ebenso die Endverbraucherpreise. Ein Ende ist vorläufig nicht absehbar.
Trotz der bereits 2021 von Russland initiierten Truppenbewegungen war der Einmarsch in die Ukraine kaum vorhersehbar, wie die Aussagen hochrangiger westlicher Politiker noch kurz davor belegen. Es stellt sich daher die Frage, wie sich diese Kriegshandlung und die daraus folgenden Konsequenzen, die Nichtverfügbarkeit von Produkten oder höhere Preise, auf bestehende Verträge auswirken.
Dabei ist zu unterscheiden, (i) ob die Leistung selbst nicht mehr möglich ist, da etwa der in der Ukraine angesiedelte Zulieferer seinen Betrieb eingestellt hat oder (ii) ob die vereinbarte Leistung als solches zwar weiterhin möglich bleibt, jedoch für die leistende Partei nicht mehr gewinnbringend ist oder sogar nur mit Verlusten realisierbar ist.
(i) Die Figur der Force-Majeure, die zuletzt im Rahmen der Covid-19-Pandemie in den Vordergrund getreten ist (vgl. hierzu unseren Beitrag „15 Monate Pandemie - Covid19 und Force Majeure nochmals betrachtet“), kann in den Fällen einer Unmöglichkeit der Leistung zur Anwendung kommen, wenn also aufgrund der Kriegshandlungen ein Zulieferer z.B. seinen Betrieb einstellen musste. Sofern die Parteien in ihren Vertrag eine „Force-Majeure-Klausel“ aufgenommen haben, kann diese bei einer solchen Unmöglichkeit zur Anwendung kommen. Dabei kann die Partei, welcher die Leistung unmöglich wird, z.B. von Schadensersatzzahlungen und auch der Leistungserbringung selbst befreit werden. Dies hängt im einzelnen von der Ausgestaltung der „Force-Majeure-Klausel“ ab.
(ii) Ist demgegenüber die Leistung grundsätzlich weiterhin möglich, sind „lediglich“ die Einkaufspreise gestiegen und verringert sich daher „nur“ die Gewinnspanne oder lässt sich der Vertrag nur noch mit Verlust erfüllen, so ist eine Lösung über die üblichen Force-Majeure-Klauseln nicht möglich und es stellt sich die Frage, ob dem Leistungsverpflichteten andere Optionen offenstehen.
Die Rechtsprechung des BGH ist für Lieferanten bei in erster Linie wirtschaftlichen Themen wenig entgegenkommend, getreu dem Grundsatz „pacta sunt servanda“. So hat der BGH im Fall eines Kalkulationsirrtums entschieden, dass ein Vertrag dennoch zu erfüllen ist, auch wenn die Insolvenz des Leistenden damit herbeigeführt wird. Damit stellt sich die Frage, ob bei nicht vorhersehbaren Preissteigerungen, deren Höhe alles in den letzten Jahrzehnten gesehene deutlich übertrifft, etwas anderes gilt, aber auch, was nach Ansicht der Rechtsprechung eigentlich vorhersehbar ist.
a) Am komfortabelsten ist die Situation, wenn im jeweiligen Vertrag ohnehin eine Preisanpassungsklausel enthalten ist, etwa wenn ohnehin vorgesehen ist, dass Preise entsprechend von Indices angepasst werden können. In einem derartigen Fall kann der Vertrag im Rahmen derartiger Preisanpassungsklauseln unproblematisch angepasst werden.
b) Doch welche Möglichkeiten der Anpassung oder Aufhebung des Vertrages bestehen, wenn – wie zumeist – eine derartige Klausel nicht vereinbart wurde?
aa) Zum einen könnte eine ergänzende Auslegung des Vertrages versucht werden. Dafür müssten sich Anhaltspunkte, ggf. auch aus der zum Vertragsabschluss führenden Korrespondenz ergeben, denen zufolge im Falle eines Krieges oder sonstiger erheblicher Gründe die vereinbarten Preise nachträglich angepasst werden können. Ein solcher hypothetische Parteiwille wird sich aber gleichfalls sehr häufig nicht nachweisen lassen, denn beide Parteien müssten bei Vertragsabschluss einen solchen Willen gehabt haben. Das Interesse des Bestellers ist ja zumeist auf Preissicherheit gerichtet, ohne Anpassungsmöglichkeit für den Lieferanten.
bb) Damit bleibt eine Lösungsmöglichkeit über die Vorschrift des § 313 BGB „Störung der Geschäftsgrundlage“, wofür allerdings der Gesetzgeber und die Rechtsprechung recht hohe Hürden aufgestellt haben.
Die Situation, dass sich eine Leistung im Vergleich zur Situation bei Vertragsschluss deutlich verteuert hat, existiert schon seit Einführung des BGB; bereits das Reichsgericht hat Konsequenzen einer derartigen Situation herausgearbeitet, welche vom Gesetzgeber in § 313 BGB „Störung der Geschäftsgrundlage“ niedergelegt wurden.
Die sogenannte „große Geschäftsgrundlage“ stellen die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen eines Vertrags zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses dar. Eine Störung dieser Geschäftsgrundlage ist gegeben, wenn durch eine Änderung dieser Rahmenbedingungen, die nicht aus der Sphäre des Leistenden stammt, ein krasses Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung entsteht und damit ein Festhalten am Vertrag dem Leistungsverpflichtenden nicht mehr zumutbar ist.
Allerdings sind den Parteien eines Vertrages nach den gesetzlichen Bestimmungen gewisse Risikobereiche zuzuordnen. So trägt der Leistungsschuldner, also etwa ein Lieferant, das Beschaffungs- und Herstellungsrisiko und insoweit auch das Risiko einer Änderung der Beschaffungspreise. Grundsätzlich liegen steigende Rohstoffpreise daher in der Risikosphäre des Leistenden.
Der Eintritt eines Krieges kann jedoch nicht nur der einen Partei zugeordnet werden. Schon das Reichsgericht stellte nach dem ersten Weltkrieg fest, dass bei einer drastischen Produktionsverteuerung eine Anpassung des Vertrags oder eine Loslösung davon möglich sein muss (RGZ 98, 18 (19); 100, 129 (131); 102, 273 (274)).
Wie bei einer Force-Majeure Situation ist eine der Voraussetzungen für diese Möglichkeit, dass der Eintritt dieses Ereignisses, vorliegend also des Ukraine-Krieges, für die Parteien nicht vorhersehbar gewesen ist.
Auch wird im Einzelnen bei den Rohstoffen zu differenzieren sein, je nachdem wie preisvolatil sich der Markt in der Vergangenheit präsentiert hat. Gab es in einem Marktsegment bereits in der Vergangenheit erhebliche, auch kurzfristige Preisschwankungen, wird ein anderer Grad an Risikoübernahme durch den Lieferanten anzusetzen sein, als in einem Marktsegment, in dem die Preise über längere Zeiträume hinweg stabil oder sogar rückläufig sind.
Wie eingangs erwähnt, sind die Hürden für eine Vertragsanpassung hoch. Angesichts der besonders im Fokus stehenden Energiepreise kann die Situation der ersten Ölkrise von 1973 zum Vergleich betrachtet werden. Diese hatte bereits in den ersten Monaten zu Preissteigerungen von mehr als 70% geführt, im Folgejahr hatten sich die Ausgangspreise vervierfacht. Dennoch hat der BGH seinerzeit zulasten eines Ölimporteurs entschieden, der einen laufenden Versorgungsvertrag aufgrund der Preissteigerungen gekündigt hatte. Nach Ansicht des BGH habe der Importeur, als mit der Region vertrautem Unternehmen, mit kriegerischen Entwicklungen im Nahen Osten rechnen müssen, zum anderen hätte der Importeur Preissicherungsmaßnahmen treffen müssen, zumindest bei den ersten Anzeichen eines Preisanstiegs (BGH, Urt. v. 8.2.1978 – VIII ZR 221/76).
Es bleibt also abzuwarten, ob sich der BGH meiner anfangs geäußerten Auffassung, dass der Ukraine Krieg nicht vorhersehbar war anschließen wird und welche Zusatzaufwände die Rechtsprechung als für Lieferanten in der gegenwärtigen Situation für hinnehmbar ansehen wird.
Kommt man zur Auffassung, dass eine Störung der Geschäftsgrundlage gegeben ist, kann der Vertrag den geänderten Gegebenheiten angepasst werden. Bei Unzumutbarkeit einer Anpassung kommt auch eine Vertragsauflösung in Betracht. Dies ist stark einzelfallabhängig, weil jede Abweichung von einem bestehenden Vertrag zuvor sorgfältig geprüft und eine Risikoanalyse gemacht werden muss. In der derzeitigen Situation gar nichts zu versuchen ist sicherlich beidseitig die schlechteste Wahl. Auch der Leistungsempfänger sollte Interesse daran haben, mit einem auch wirtschaftlich stabilen Lieferanten langfristig zusammen arbeiten zu können.
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