Autor

Harald Bechteler

Partner

Read More
Autor

Harald Bechteler

Partner

Read More

9. Juni 2022

streiTWert – 34 von 61 Insights

Der Russland-Ukraine-Krieg: Nach der Pandemie ein weiterer Anwendungsfall der Force-Majeure?

  • Briefing

Mit dem Krieg zwischen Russland und der Ukraine gehen nicht nur zivilrechtliche Folgen wegen der gegen Russland verhängten Sanktionen einher. Die Auswirkungen haben sich längst im täglichen Leben bemerkbar gemacht. Die Preise für Rohstoffe sind in einem Maße gestiegen, wie seit Jahrzehnten nicht mehr, ebenso die Endverbraucherpreise. Ein Ende ist vorläufig nicht absehbar.

Trotz der bereits 2021 von Russland initiierten Truppenbewegungen war der Einmarsch in die Ukraine kaum vorhersehbar, wie die Aussagen hochrangiger westlicher Politiker noch kurz davor belegen. Es stellt sich daher die Frage, wie sich diese Kriegshandlung und die daraus folgenden Konsequenzen, die Nichtverfügbarkeit von Produkten oder höhere Preise, auf bestehende Verträge auswirken.

Dabei ist zu unterscheiden, (i) ob die Leistung selbst nicht mehr möglich ist, da etwa der in der Ukraine angesiedelte Zulieferer seinen Betrieb eingestellt hat oder (ii) ob die vereinbarte Leistung als solches zwar weiterhin möglich bleibt, jedoch für die leistende Partei nicht mehr gewinnbringend ist oder sogar nur mit Verlusten realisierbar ist.

(i) Die Figur der Force-Majeure, die zuletzt im Rahmen der Covid-19-Pandemie in den Vordergrund getreten ist (vgl. hierzu unseren Beitrag „15 Monate Pandemie - Covid19 und Force Majeure nochmals betrachtet“), kann in den Fällen einer Unmöglichkeit der Leistung zur Anwendung kommen, wenn also aufgrund der Kriegshandlungen ein Zulieferer z.B. seinen Betrieb einstellen musste. Sofern die Parteien in ihren Vertrag eine „Force-Majeure-Klausel“ aufgenommen haben, kann diese bei einer solchen Unmöglichkeit zur Anwendung kommen. Dabei kann die Partei, welcher die Leistung unmöglich wird, z.B. von Schadensersatzzahlungen und auch der Leistungserbringung selbst befreit werden. Dies hängt im einzelnen von der Ausgestaltung der „Force-Majeure-Klausel“ ab.

(ii) Ist demgegenüber die Leistung grundsätzlich weiterhin möglich, sind „lediglich“ die Einkaufspreise gestiegen und verringert sich daher „nur“ die Gewinnspanne oder lässt sich der Vertrag nur noch mit Verlust erfüllen, so ist eine Lösung über die üblichen Force-Majeure-Klauseln nicht möglich und es stellt sich die Frage, ob dem Leistungsverpflichteten andere Optionen offenstehen.

Die Rechtsprechung des BGH ist für Lieferanten bei in erster Linie wirtschaftlichen Themen wenig entgegenkommend, getreu dem Grundsatz „pacta sunt servanda“. So hat der BGH im Fall eines Kalkulationsirrtums entschieden, dass ein Vertrag dennoch zu erfüllen ist, auch wenn die Insolvenz des Leistenden damit herbeigeführt wird. Damit stellt sich die Frage, ob bei nicht vorhersehbaren Preissteigerungen, deren Höhe alles in den letzten Jahrzehnten gesehene deutlich übertrifft, etwas anderes gilt, aber auch, was nach Ansicht der Rechtsprechung eigentlich vorhersehbar ist.

a) Am komfortabelsten ist die Situation, wenn im jeweiligen Vertrag ohnehin eine Preisanpassungsklausel enthalten ist, etwa wenn ohnehin vorgesehen ist, dass Preise entsprechend von Indices angepasst werden können. In einem derartigen Fall kann der Vertrag im Rahmen derartiger Preisanpassungsklauseln unproblematisch angepasst werden.

b) Doch welche Möglichkeiten der Anpassung oder Aufhebung des Vertrages bestehen, wenn – wie zumeist – eine derartige Klausel nicht vereinbart wurde?

aa) Zum einen könnte eine ergänzende Auslegung des Vertrages versucht werden. Dafür müssten sich Anhaltspunkte, ggf. auch aus der zum Vertragsabschluss führenden Korrespondenz ergeben, denen zufolge im Falle eines Krieges oder sonstiger erheblicher Gründe die vereinbarten Preise nachträglich angepasst werden können. Ein solcher hypothetische Parteiwille wird sich aber gleichfalls sehr häufig nicht nachweisen lassen, denn beide Parteien müssten bei Vertragsabschluss einen solchen Willen gehabt haben. Das Interesse des Bestellers ist ja zumeist auf Preissicherheit gerichtet, ohne Anpassungsmöglichkeit für den Lieferanten.

bb) Damit bleibt eine Lösungsmöglichkeit über die Vorschrift des § 313 BGB „Störung der Geschäftsgrundlage“, wofür allerdings der Gesetzgeber und die Rechtsprechung recht hohe Hürden aufgestellt haben.

Die Situation, dass sich eine Leistung im Vergleich zur Situation bei Vertragsschluss deutlich verteuert hat, existiert schon seit Einführung des BGB; bereits das Reichsgericht hat Konsequenzen einer derartigen Situation herausgearbeitet, welche vom Gesetzgeber in § 313 BGB „Störung der Geschäftsgrundlage“ niedergelegt wurden.

Die sogenannte „große Geschäftsgrundlage“ stellen die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen eines Vertrags zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses dar. Eine Störung dieser Geschäftsgrundlage ist gegeben, wenn durch eine Änderung dieser Rahmenbedingungen, die nicht aus der Sphäre des Leistenden stammt, ein krasses Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung entsteht und damit ein Festhalten am Vertrag dem Leistungsverpflichtenden nicht mehr zumutbar ist. 

Allerdings sind den Parteien eines Vertrages nach den gesetzlichen Bestimmungen gewisse Risikobereiche zuzuordnen. So trägt der Leistungsschuldner, also etwa ein Lieferant, das Beschaffungs- und Herstellungsrisiko und insoweit auch das Risiko einer Änderung der Beschaffungspreise. Grundsätzlich liegen steigende Rohstoffpreise daher in der Risikosphäre des Leistenden.

Der Eintritt eines Krieges kann jedoch nicht nur der einen Partei zugeordnet werden. Schon das Reichsgericht stellte nach dem ersten Weltkrieg fest, dass bei einer drastischen Produktionsverteuerung eine Anpassung des Vertrags oder eine Loslösung davon möglich sein muss (RGZ 98, 18 (19); 100, 129 (131); 102, 273 (274)).

Wie bei einer Force-Majeure Situation ist eine der Voraussetzungen für diese Möglichkeit, dass der Eintritt dieses Ereignisses, vorliegend also des Ukraine-Krieges, für die Parteien nicht vorhersehbar gewesen ist.

Auch wird im Einzelnen bei den Rohstoffen zu differenzieren sein, je nachdem wie preisvolatil sich der Markt in der Vergangenheit präsentiert hat. Gab es in einem Marktsegment bereits in der Vergangenheit erhebliche, auch kurzfristige Preisschwankungen, wird ein anderer Grad an Risikoübernahme durch den Lieferanten anzusetzen sein, als in einem Marktsegment, in dem die Preise über längere Zeiträume hinweg stabil oder sogar rückläufig sind.

Wie eingangs erwähnt, sind die Hürden für eine Vertragsanpassung hoch. Angesichts der besonders im Fokus stehenden Energiepreise kann die Situation der ersten Ölkrise von 1973 zum Vergleich betrachtet werden. Diese hatte bereits in den ersten Monaten zu Preissteigerungen von mehr als 70% geführt, im Folgejahr hatten sich die Ausgangspreise vervierfacht. Dennoch hat der BGH seinerzeit zulasten eines Ölimporteurs entschieden, der einen laufenden Versorgungsvertrag aufgrund der Preissteigerungen gekündigt hatte. Nach Ansicht des BGH habe der Importeur, als mit der Region vertrautem Unternehmen, mit kriegerischen Entwicklungen im Nahen Osten rechnen müssen, zum anderen hätte der Importeur Preissicherungsmaßnahmen treffen müssen, zumindest bei den ersten Anzeichen eines Preisanstiegs (BGH, Urt. v. 8.2.1978 – VIII ZR 221/76).

Es bleibt also abzuwarten, ob sich der BGH meiner anfangs geäußerten Auffassung, dass der Ukraine Krieg nicht vorhersehbar war anschließen wird und welche Zusatzaufwände die Rechtsprechung als für Lieferanten in der gegenwärtigen Situation für hinnehmbar ansehen wird.

Kommt man zur Auffassung, dass eine Störung der Geschäftsgrundlage gegeben ist, kann der Vertrag den geänderten Gegebenheiten angepasst werden. Bei Unzumutbarkeit einer Anpassung kommt auch eine Vertragsauflösung in Betracht. Dies ist stark einzelfallabhängig, weil jede Abweichung von einem bestehenden Vertrag zuvor sorgfältig geprüft und eine Risikoanalyse gemacht werden muss. In der derzeitigen Situation gar nichts zu versuchen ist sicherlich beidseitig die schlechteste Wahl. Auch der Leistungsempfänger sollte Interesse daran haben, mit einem auch wirtschaftlich stabilen Lieferanten langfristig zusammen arbeiten zu können.

In dieser Serie

Technology, Media & Communications

AI product liability – moving ahead with a modernised legal regime

Katie Chandler, Philipp Behrendt and Christopher Bakier look at the EU's proposals to legislate for liability risks in AI products.

9. May 2023

von mehreren Autoren

Disputes & Investigations

Vorschlag der Europäischen Kommission für eine neue Richtlinie über die Reparatur von Waren

13. April 2023

von mehreren Autoren

Disputes & Investigations

Vorsicht, Lerngefahr!

Beratung zur Streitvermeidung und Streitlösung

28. March 2023

von Dr. Frank Koch

Disputes & Investigations

BGH: Uneingeschränkte Kontrolle kartellrechtlicher Schiedssprüche

24. January 2023

von mehreren Autoren

Disputes & Investigations

Der Vorschlag der Europäischen Kommission zur Bauproduktenverordnung – Es muss nachgebessert werden!

Hinweis zum Aufsatz von Christine Simon-Wiehl in Zeitschrift für Product Compliance (ZfPC) 05/2022, 198 ff.

13. January 2023

Disputes & Investigations

Gerichtsverhandlung per Videokonferenz soll Standard werden

13. December 2022

Disputes & Investigations

BGH zur Ausländersicherheit nach dem Brexit

9. December 2022

von Peter Bert, lic.oec.int.

Produktsicherheit & Produkthaftung

Entwurf der EU-Kommission für eine neue Produkthaftungsrichtlinie in der EU

Die Europäische Kommission hat am 28. September 2022 neben dem Vorschlag für eine Richtlinie über KI-Haftung ihren mit Spannung erwarteten Entwurf für eine neue Produkthaftungsrichtlinie veröffentlicht. Diese Neuerungen gibt es.

25. November 2022

von David Hilger, LL.M. (Bilbao)

Disputes & Investigations

Moderner streiten!

Experimente beim digitalen Zivilprozess sind schön und gut – doch es fehlt ein System

29. September 2022

von Peter Bert, lic.oec.int.

eCommerce & Marketplaces

eCommerce: Muss ein Händler stets über Herstellergarantien informieren? – EuGH mit klarem „Jein“

Unstrittig: Herstellergarantien können den Abverkauf von Waren erhöhen und zur Kundenbindung beitragen. Aber sind Online-Händler auch verpflichtet, ihre Kunden darüber zu informieren, wenn es solche Garantien gibt?

5. October 2022

von Johannes Raue, Henry Richard Lauf

Disputes & Investigations

Der BGH und die Business Judgement Rule

streiTWert

19. May 2022

von Dr. Dirk Lorenz

Disputes & Investigations

Schmerzensgeld: BGH verwirft die sog. taggenaue Berechnung

streiTWert

5. May 2022

von Florian Lambracht

Disputes & Investigations

EU-Richtlinie über Verbandsklagen: Offene Fragen und Umsetzungsspielräume

streiTWert – Am 24.12.2020 ist die Verbandsklage-Richtlinie in Kraft getreten

18. November 2021

von Matthias Swiderski, LL.M.

Coronavirus

Wenn Corona dazwischenkommt: Wer bleibt auf den Kosten sitzen?

streiTWert – Entscheidung des LG Hamburg über Stornierungskosten bei Veranstaltungen

22. September 2021

von Donata Freiin von Enzberg, LL.M., Kerstin Bär, LL.M. (Bristol, UK)

Disputes & Investigations

BGH: Wie viel Arzthaftung steckt in der Produkthaftung?

streiTWert

9. September 2021

von Florian Lambracht

Disputes & Investigations

BGH – Keine Verwechslungsgefahr bei der Firmenbezeichnung „partners“

streiTWert

23. August 2021

von Kolja Helms

Disputes & Investigations

EuGH: Keine Produkthaftung für falsche Gesundheitstipps in einer Zeitung

streiTWert

13. August 2021

von Dr. Lena Niehoff

Disputes & Investigations

Newsflash – Neues Produktsicherheitsgesetz in Kraft

streiTWert

5. August 2021

Disputes & Investigations

Neues aus Brüssel zu Lugano und Den Haag

streiTWert

28. July 2021

von Peter Bert, lic.oec.int.

Disputes & Investigations

Kommen die „Commercial Courts“ in Deutschland?

streiTWert

28. May 2021

von Jan Andresen

Disputes & Investigations

Die Verpflichtung zur Leistung einer Prozesskostensicherheit nach § 110 ZPO

streiTWert – Ein vielfach unterschätzter Kostenpunkt für im Ausland ansässige Klageparteien?

1. September 2021

von Frank J. Weck, LL.M.

Call To Action Arrow Image

Newsletter-Anmeldung

Wählen Sie aus unserem Angebot Ihre Interessen aus!

Jetzt abonnieren
Jetzt abonnieren