18. November 2021
streiTWert – 46 von 63 Insights
Am 24. Dezember 2020 ist die Verbandsklage-Richtlinie (RL (EU) 2020/1828) in Kraft getreten. Die Richtlinie sieht neue Klagemöglichkeiten zur Durchsetzung von Verbraucherrechten vor. Während die nationalen Parlamente der EU Mitgliedsstaaten nun bis Dezember 2022 Zeit haben, die Richtlinie umzusetzen, zeichnen sich bereits einige interessante Umsetzungsfragen für den deutschen Gesetzgeber ab.
Die Möglichkeit einer Verbandsklage soll grundsätzlich nur den sog. „Qualifizierten Einrichtungen“ offenstehen. Dies setzt voraus, dass die Qualifizierten Einrichtungen auch als solche von dem Mitgliedstaat benannt, also „institutionalisiert“ sind. Die Anmeldung als Qualifizierte Einrichtung wird also grundsätzlich vor der Erhebung einer Klage zu erfolgen haben.
Diese Institutionalisierung wird durch Art. 4 Abs. 6 der Richtlinie „aufgeweicht“: Die Mitgliedstaaten können eine Organisation als Qualifizierte Einrichtung auf deren Antrag hin ad hoc für die Erhebung einer bestimmten innerstaatlichen Verbandsklage benennen und damit gewissermaßen ad hoc die Klagebefugnis verleihen. Nach Erwägungsgrund 28 der Richtlinie soll die Benennung dabei gegebenenfalls durch das angerufene Gericht oder die angerufene Verwaltungsbehörde erfolgen können, und zwar auch „im Wege der Annahme“. Wie diese Annahme konkret ausgestaltet sein soll, bleibt unklar.
Nach Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie können die Mitgliedstaaten entscheiden, ob sie die (strengeren) Kriterien, die für die Benennung Qualifizierter Einrichtungen für die Erhebung grenzüberschreitender Verbandsklagen gelten, auch für die Benennung Qualifizierter Einrichtungen für die Erhebung innerstaatlicher Verbandsklagen anwenden wollen. Das kann dazu führen, dass den Gerichten u.U. bereits im Rahmen der Prüfung der Zulässigkeit einer Klage im Fall einer Ad-hoc-Benennung ein umfangreicher Prüfungskanon auferlegt wird. Es stellt sich zudem auch die Frage, ob der deutsche Gesetzgeber die nationale Musterfeststellungsklage ebenfalls um eine solche Ad-hoc-Klagebefugnis ergänzen wird.
Im deutschen Prozessrecht gilt der Grundsatz, dass Kläger oder Beklagter die ihnen günstigen Tatsachen vortragen und ggf. beweisen müssen. Keine Partei ist verpflichtet, den Sachverhalt für ihren Gegner zu ermitteln. Zwar existiert mit § 142 ZPO auch im deutschen Prozessrecht eine Bestimmung, mit deren Hilfe das Gericht anordnen kann, dass eine Partei oder ein Dritter die in ihrem oder seinem Besitz befindlichen Urkunden und sonstigen Unterlagen, auf die sich eine Partei bezogen hat, vorlegt. Diese Bestimmung bleibt jedoch weit hinter dem zurück, was im US-Recht als „discovery“ gängige Praxis ist, mit der die Gegenseite gezwungen werden kann, Beweismittel vorzulegen.
Mit Artikel 18 der Verbandsklagerichtlinie geht der europäische Gesetzgeber nunmehr einen Schritt in eben diese „US-Richtung“: Danach soll beiden Parteien das Recht zustehen, die Offenlegung von Beweismitteln, die die Gegenseite oder ein Dritter besitzt, zu beantragen. Für die Qualifizierte Einrichtung besteht dabei allerdings das Erfordernis, dass sie alle ihr unter zumutbarem Aufwand zugänglichen Beweismittel vorgelegt hat. Zudem muss sie darauf hinweisen, dass der Beklagte oder ein Dritter über zusätzliche Beweismittel verfügen. Die Umsetzung durch den deutschen Gesetzgeber wird sich allerdings nicht nur hierauf beschränken können: Art. 18 wird in Art. 19 der Richtlinie aufgeführt, nach der die Verletzung der Vorlagepflicht mit wirksamen, verhältnismäßigen und abschreckenden Sanktionen durchgesetzt werden können muss. Hierzu zählen nach Art. 18 Abs. 2 auch Geldbußen. Unter § 142 ZPO ist die Vorlegung gegen die Parteien bisher nicht erzwingbar, lediglich gegen Dritte kommen nach geltender Rechtslage in diesen Fällen Ordnungsgeld oder Ordnungshaft nach § 390 ZPO in Betracht. Hier wird es also einer Anpassung bedürfen und es könnte sein, dass auch § 142 ZPO mit in den Blick des Gesetzgebers rücken wird.
Nach Art. 16 der Richtlinie soll sowohl die auf Unterlassung als auch die auf Abhilfe gerichtete Verbandsklage für die von der Verbandsklage betroffenen Verbraucher eine Hemmung oder Unterbrechung der Verjährung bewirken. Die Verjährungshemmung soll den Verbrauchern bei Verbandsunterlassungsklagen ermöglichen, nach Abschluss des Verbandsklageverfahrens Klage zur Erwirkung von Abhilfeentscheidungen im Zusammenhang mit dem mutmaßlichen Verstoß zu erheben, ohne befürchten zu müssen, dass während der Verfahrensdauer einer Verbandsklage Verjährungsfristen abgelaufen sind. Eine derartige Verjährungshemmung durch eine Verbandsunterlassungsklage ist dem deutschen Recht bis dato fremd. Verbunden ist damit eine inhärente Rechtsunsicherheit. Es bleibt nämlich unklar, für welche Verbraucher die Verjährungshemmung eintritt. Im Gegensatz zu Abhilfeklagen setzen Verbandsunterlassungsklagen nicht voraus, dass sich die Verbraucher anschließen. Eine Übertragung des für die Musterfeststellungsklage geltenden § 204 Abs.1 Nr.1 a) BGB auf die Verbandsunterlassungsklage, wie er für die Abhilfeklage diskutiert wird, scheidet damit wohl aus.
Erwägungsgrund 65 der Richtlinie enthält zwar eine Maßgabe, wonach die Qualifizierte Einrichtung die Gruppe der Verbraucher hinreichend genau definieren soll, deren Interessen durch den mutmaßlichen Verstoß beeinträchtigt werden und die möglicherweise aufgrund dieses Verstoßes einen Anspruch geltend machen und davon betroffen sein könnten, dass Verjährungsfristen ablaufen. Wie praktikabel sich diese Maßgabe erweist und wie eine rechtssichere konkrete Umsetzung aussehen wird, bleibt abzuwarten.
Diese drei Beispiele verdeutlichen: Viele mit der Verbandsklagerichtlinie verbundene Fragen sind noch offen und erst die Umsetzung der Richtlinie wird zeigen, wie tiefgreifend die Änderungen im deutschen Prozessrecht wirklich sein werden. Aus Verbrauchersicht wird sich – das zeigt die bisherige Erfahrung mit der Musterfeststellungsklage – die Frage stellen, mit Hilfe welcher prozessualen Instrumente die eigenen Interessen am besten durchgesetzt werden können. Aus Sicht der zukünftigen Beklagten hingegen wird der Aspekt der Rechtssicherheit und Handhabbarkeit genau in den Blick zu nehmen sein; es deutet sich bereits jetzt an, dass es zu gravierenden Unterschieden zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten kommen könnte.
Anhand der konkreten Umsetzung wird sich zudem entscheiden, ob die neuen Verbandsklagemöglichkeiten einem Fremdkörper im nationalen Prozessrecht gleichen werden, oder ob sich der Gesetzgeber dazu entscheiden wird, die durch diese neuen prozessualen Mittel gesetzten Impulse aufzugreifen und ggf. auch bestehende Regelungen im Prozessrecht anzupassen, um zu einer breiteren Harmonisierung beizutragen. Die dargestellten Beispiele zeigen auf, wie weit die Änderungen gehen können bzw. sogar gehen müssen. Dies wiederum bedeutet, dass es unter Umständen auch abseits der eigentlichen Kernthematik „Verbandsklagerichtlinie“ zu grundsätzlicheren Anpassungen im deutschen Recht kommen kann.
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