25. Mai 2023
streiTWert – 11 von 64 Insights
In seiner mit Spannung erwarteten und im Nachgang von viel Seiten kommentierten „Thermofenster-Entscheidung“ erklärte der EuGH auf die Fragen des vorlegenden LG Ravensburg, dass jeder Mitgliedstaat vorsehen müsse, dass dem Käufer eines Kraftfahrzeuges, in welchem eine gegen EU-Vorschriften des Typengenehmigungsrechts (Art. 18. Abs. 1, Art. 26 Abs. 1, Art. 46 Rahmen-RL 2007/46/EG i.V.m. Art. 5 Abs. 2 VO (EG) 715/2007) verstoßende Abschalteinrichtung verbaut ist, auch ein Schadensersatzanspruch gegen den Hersteller zusteht, wenn dem Käufer durch diese Abschalteinrichtung ein Schaden entstanden ist (EuGH (Große Kammer) Urt. v. 21. März 2023 – C 100/21 (QB/Mercedes-Benz Group AG, vormals Daimler AG) = NJW 2023, 1111 [1116], Rn. 91 der Entscheidungsgründe).
Der EuGH stellte in diesem Zusammenhang fest, dass die EU-Vorschriften des Typengenehmigungsrechts (Art. 18. Abs. 1, Art. 26 Abs. 1, Art. 46 Rahmen-RL 2007/46/EG i.V.m. Art. 5 Abs. 2 VO (EG) 715/2007) auch dem Schutz des einzelnen Käufers dienen und damit eine drittschützende Wirkung entfalten. Damit widersprach der EuGH der bislang vom BGH eingenommenen Position, welcher bis zur „Thermofenster-Entscheidung“ keine Anhaltspunkte dafür zu erkennen vermochte, dass die Vorschriften des Typengenehmigungsrechts (auch) den „Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit und speziell des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts der einzelnen Käufer bezweck[e]“ (BGH, Urt. v. 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19 = NJW 2020, 1962 [1971], Rn. 76 der Entscheidungsgründe).
Mit der „Thermofenster-Entscheidung“ ebnete der EuGH den Weg für die vom BGH bislang abgelehnte Schadensersatzhaftung aus § 823 Abs. 2 BGB (wenngleich nur dem Grunde, hingegen nicht der Höhe nach), bei der – anders als bei § 826 BGB – kein Vorsatz erforderlich ist, sondern einfache Fahrlässigkeit genügt. Dadurch wuchs die Hoffnung der aktuell noch klagenden Käufer eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehenen Fahrzeuges (ca. 2.100 Verfahren vor dem BGH und nahezu 100.000 Verfahren in unteren Instanzen), künftig leichter einen Schadensersatzanspruch gegen den Hersteller des Fahrzeuges zugesprochen zu bekommen. Angesichts der Andeutungen der Vorsitzenden Richterin des VIa. Zivilsenats des BGH (Az.: VIa ZR 335/21) aus der mündlichen Verhandlung vom 8. Mai 2023 mag diese Hoffnung sogar weiteren Nährboden bekommen haben.
Die „Thermofenster-Entscheidung“ des EuGH ist allerdings nicht nur für Käufer eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehenen Fahrzeuges interessant. Der EuGH wies in Bezug auf Art. 5 Abs. 2 VO (EG) 715/2007 explizit darauf hin, dass „das mit dieser Verordnung verfolgte Ziel […] darin besteht, ein hohes Umweltschutzniveau sicherzustellen und zur Verbesserung der Luftqualität und zur Einhaltung der Luftverschmutzungsgrenzwerte insbesondere die Stickstoffoxid (NOx)-Emissionen bei Dieselkraftfahrzeugen zu mindern […].“ (Große Kammer) Urt. v. 21. März 2023 – C 100/21 (QB/Mercedes-Benz Group AG, vormals Daimler AG) = NJW 2023, 1111 [1114], Rn. 70 der Entscheidungsgründe). Damit stellt sich unweigerlich die bislang unbeantwortete Frage, ob vor dem Hintergrund der „Thermofenster-Entscheidung“ des EuGH zugleich eine neue Welle zivilrechtlicher „Klimaklagen“ droht.
Zivilrechtliche „Klimaklagen“ (auch und vor allem gegen privatwirtschaftliche Unternehmen) waren in der Vergangenheit und werden auch zukünftig in aller Regel darauf ausgerichtet sein, dass
begehrt wird (vgl. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Rechtliche Grundlagen und Möglichkeiten für Klima-Klagen gegen Staat und Unternehmen in Deutschland (Az.: WD 7 – 3000 – 116/16) sowie Weigelt, Haftung Privater für Beiträge zum Klimawandel, 1. Aufl. 2022, der darauf hinweist, dass – (wohl nur) in Ausnahmefällen – derartige Ansprüche auch auf vertraglicher Grundlage bestehen können).
Aufgrund der in der „Thermofenster-Entscheidung“ des EuGH festgestellten drittschützenden Wirkung der EU Vorschriften des Typengenehmigungsrechts (Art. 18. Abs. 1, Art. 26 Abs. 1, Art. 46 Rahmen-RL 2007/46/EG i.V.m. Art. 5 Abs. 2 VO (EG) 715/2007) stellt sich daher für etwaige künftige „Klimaklagen“ unweigerlich die Frage, ob
Ob die EU-Vorschriften des Typengenehmigungsrechts nunmehr als „Schutzgesetz“ i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB zu qualifizieren sind, wird kontrovers diskutiert. Hiergegen wird vorgebracht, dass „die individualschützende Ausrichtung […] zwar notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für die Qualifizierung einer Vorschrift als Schutzgesetz“ sei. (Grigoleit, Perspektiven der Schutzgesetzhaftung im Kontext des unionsrechtlichen Effektivitätsgebots – am Beispiel der Dieselklagen, ZIP 2023, 221 [232 ff.]). Erforderlich sei nach der st. Rspr. des BGH (Urt. v. 13. März 2018 – II ZR 158/16 = NJW-RR 2018, 738 [739], Rn. 14 der Entscheidungsgründe m.w.N.) vielmehr, dass „die Schaffung eines individuellen Schadensersatzanspruchs sinnvoll und im Lichte des haftungsrechtlichen Gesamtsystems tragbar erscheinen, wobei in umfassender Würdigung des gesamten Regelungszusammenhangs, in den die Norm gestellt ist, zu prüfen ist, ob es in der Tendenz des Gesetzgebers liegen konnte, an die Verletzung des geschützten Interesses die deliktische Einstandspflicht des dagegen Verstoßenden mit allen damit zugunsten des Geschädigten gegebenen Beweiserleichterungen zu knüpfen […].“
Einer solche Argumentation wird im Hinblick auf die EU-Vorschriften des Typengenehmigungsrechts durch die Feststellungen des EuGH jedoch der Boden entzogen. Dieser führte explizit aus (EuGH (Große Kammer) Urt. v. 21. März 2023 – C 100/21 (QB/Mercedes-Benz Group AG, vormals Daimler AG) = NJW 2023, 1111 [1116], Rn. 91 der Entscheidungsgründe), dass „sich aus Art. 18 I, Art. 26 I und Art. 46 der Rahmenrichtlinie iVm Art. 5 II VO Nr. 715/2007 ergibt, dass die Mitgliedstaaten vorsehen müssen, dass der Käufer eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung iSv Art. 5 II dieser Verordnung ausgestatteten Fahrzeugs einen Anspruch auf Schadensersatz durch den Hersteller dieses Fahrzeugs hat, wenn dem Käufer durch diese Abschalteinrichtung ein Schaden entstanden ist.“ Damit wird der „Schutzgesetz“-Charakter der EU-Vorschriften des Typengenehmigungsrechts insoweit nicht mehr ernsthaft verneint werden können (vgl. Gsell/Mehring, Neue Vorzeichen für die deliktsrechtliche Herstellerhaftung für Thermofenster, NJW 2023, 1099 [1100 f.]).
Mit der zuvor zitierten Feststellung des EuGH ist zugleich aber auch die zweite Frage dahingehend geklärt, dass Anspruchsteller eines Schadensersatzanspruches aus § 823 Abs. 2 BGB wegen der Ausstattung eines Fahrzeuges mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung (und damit wegen der Verletzung der EU-Typengenehmigungsvorschriften durch den Hersteller) allenfalls der individuelle Käufer eines solchen Fahrzeuges sein kann. Dass die EU-Vorschriften des Typengenehmigungsrechts darüber hinaus auch und gerade dem Schutz eines jeden vor allgemeinen Klima- bzw. Umweltschäden dienen soll, welche wegen der in Fahrzeugen verbauten unzulässigen Abschalteinrichtungen entstehen (z.B. höhere Luftverschmutzung durch NOx-Emissionen), lässt sich der Entscheidung hingegen nicht entnehmen.
Im Hinblick auf künftige „Klimaklagen“, welche auf § 823 Abs. 2 BGB wegen der Verletzung der EU Vorschriften des Typengenehmigungsrechts (Art. 18. Abs. 1, Art. 26 Abs. 1, Art. 46 Rahmen-RL 2007/46/EG i.V.m. Art. 5 Abs. 2 VO (EG) 715/2007) gestützt würden, ließe sich möglicherweise noch argumentieren, dass Art. 5 Abs. 2 VO (EG) 715/2007 auch das Ziel verfolgt, u.a. „ein hohes Umweltschutzniveau sicherzustellen und zur Verbesserung der Luftqualität“ beizutragen. Allerdings wies der EuGH in der „Thermofenster-Entscheidung“ ausdrücklich darauf hin, dass die EU-Vorschriften des Typengenehmigungsrechts den Zweck verfolgen, Käufer eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestatteten Fahrzeuges vor etwaigen Schäden zu schützen, die durch die unzulässige Abschalteinrichtung entstanden sind. Die Einbeziehung anderer Personen in den Schutzbereich der EU-Vorschriften des Typengenehmigungsrecht ist der Entscheidung nicht zu entnehmen und auch anderweitig nicht ersichtlich. Die bestimmungsgemäße Einbeziehung des potentiellen Anspruchsteller in den von der verletzten Norm geschützten Personenkreis ist für einen Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB jedoch zwingende Voraussetzung (Spindler in: BeckOGK, BGB, Stand: 01.02.2023, § 823, Rn. 268 ff.; Wagner in: MüKoBGB, 8. Aufl. 2020, § 823, Rn. 562).
Der EuGH ist in seiner „Thermofenster-Entscheidung“ vom 21. März 2023 zwar der (bisherigen) Rechtsauffassung des BGH entgegengetreten und hat einen Drittschutz der EU-Vorschriften des Typengenehmigungsrechts (Art. 18. Abs. 1, Art. 26 Abs. 1, Art. 46 Rahmen-RL 2007/46/EG i.V.m. Art. 5 Abs. 2 VO (EG) 715/2007) bejaht. Ein neues „Einfallstor“ für zivilrechtliche „Klimaklagen“ wurde hierdurch allerdings (zunächst) nicht geschaffen.
Gleichwohl heißt es, insbesondere für privatwirtschaftliche Unternehmen, das sich ständig verändernde regulatorische Umfeld zu Klima- und Umweltschutzfragen im Blick zu behalten, da es völlig „[u]ngewiss bleibt […], bei welchen europäischen Rechtsakten der EuGH künftig ebenfalls »durchgreifen« und Schadensersatzansprüche bejahen wird, und wann hingegen die Mitgliedstaaten frei bleiben, allein alternative Sanktionen anzuordnen.“ (Gsell/Mehring, Neue Vorzeichen für die deliktsrechtliche Herstellerhaftung für Thermofenster, NJW 2023, 1099 [1100 e.E.]).
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