13. September 2021
streiTWert – 49 von 63 Insights
Etihad, die staatliche Fluggesellschaft der Vereinigten Arabischen Emirate, war Hauptaktionärin der Air Berlin. Etihad stellte Air Berlin seit 2011 Liquidität zur Verfügung. Als sie die finanzielle Unterstützung im August 2017 beendete, stellte Air Berlin wenige Tage später beim Amtsgericht Charlottenburg einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Die rechtlichen Folgen dieser Insolvenz sind immer noch nicht ganz abgearbeitet. Ein wirtschaftlich bedeutender Aspekt beschäftigte zuletzt die deutschen und englischen Gerichte.
Noch wenige Monate vor dem Insolvenzantrag, am 28. April 2017, gewährte Etihad Air Berlin ein Darlehen in Höhe von EUR 350 Millionen. Der zugrundeliegende Darlehensvertrag unterlag englischem Recht und sah die ausschließliche Zuständigkeit der englischen Gerichte vor. Allerdings sollte Etihad das Recht haben, Klage auch vor anderen zuständigen Gerichten zu erheben. Es handelte sich also um eine sogenannte „asymmetrische“ Gerichtsstandsvereinbarung zugunsten von Etihad.
Um eine positive Fortführungsprognose zu ermöglichen, gab Etihad am gleichen Tag, an dem der Darlehensvertrag geschlossen wurde, gegenüber Air Berlin einen „Comfort Letter“, also eine Patronatserklärung ab. Diese Patronatserklärung enthielt keine gesonderte Rechtswahlklausel oder Gerichtsstandsvereinbarung.
Nach der Insolvenz leitete der Insolvenzverwalter der Air Berlin aus dieser Patronatserklärung Schadensersatzansprüche von rund EUR 496 Millionen gegen Etihad her. Er erhob deswegen und wegen weitergehender Feststellungansprüche im Juli 2018 Klage gegen Etihad vor dem Landgericht Berlin. Etihad ihrerseits reichte im Januar 2019 beim High Court in London eine gegenläufige negative Feststellungsklage ein, gestützt auf die im Darlehensvertrag vereinbarte Gerichtsstandsklausel zugunsten der englischen Gerichte.
Grundsätzlich muss nach Art. 31 EuGVVO das später angerufene Gericht, hier also der englische High Court, das Verfahren aussetzen und die Entscheidung des zuerst angerufenen Gerichts, hier also des Landgerichts Berlin, über seine Zuständigkeit abwarten. Art. 31 Abs. 2 EuGVVO sieht von dieser Grundregel eine Ausnahme vor, wenn das später angerufene Gericht aufgrund einer ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarung zuständig sein soll:
„Wird ein Gericht eines Mitgliedstaats angerufen, das gemäß einer Vereinbarung nach Artikel 25 ausschließlich zuständig ist, so setzt das Gericht des anderen Mitgliedstaats unbeschadet des Artikels 26 das Verfahren so lange aus, bis das auf der Grundlage der Vereinbarung angerufene Gericht erklärt hat, dass es gemäß der Vereinbarung nicht zuständig ist.“
Diese Regelung zielt ausdrücklich darauf, „Torpedo“-Taktiken im Kontext von ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarung leerlaufen zu lassen. Bekannt wurden solche Taktiken insbesondere als „Italian Torpedos“ im Kontext von Patent-oder Markenrechtsstreitigkeiten: Um einer erwarteten gegen ihn gerichteten Klage in einem anderen Mitgliedstaat aus dem Weg zu gehen, erhebt der potentielle Beklagte in einem Mitgliedstaat mit bekannterweise langsam arbeitenden Gerichten wie Italien oder Belgien eine negative Feststellungsklage. Die Rechtshängigkeit in diesem Staat steht dann der später gegen ihn eingereichten Klage im anderen Mitgliedstaat entgegen.
In Erwägungsgrund 22 zur EuGVVO heißt es:
„Um allerdings die Wirksamkeit von ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarungen zu verbessern und missbräuchliche Prozesstaktiken zu vermeiden, ist es erforderlich, eine Ausnahme von der allgemeinen Rechtshängigkeitsregel vorzusehen, um eine befriedigende Regelung in einem Sonderfall zu erreichen, in dem es zu Parallelverfahren kommen kann. Dabei handelt es sich um den Fall, dass ein Verfahren bei einem Gericht, das nicht in einer ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarung vereinbart wurde, anhängig gemacht wird und später das vereinbarte Gericht wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien angerufen wird. In einem solchen Fall muss das zuerst angerufene Gericht das Verfahren aussetzen, sobald das vereinbarte Gericht angerufen wurde, und zwar so lange, bis das letztere Gericht erklärt, dass es gemäß der ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarung nicht zuständig ist. Hierdurch soll in einem solchen Fall sichergestellt werden, dass das vereinbarte Gericht vorrangig über die Gültigkeit der Vereinbarung und darüber entscheidet, inwieweit die Vereinbarung auf den bei ihm anhängigen Rechtsstreit Anwendung findet. Das vereinbarte Gericht sollte das Verfahren unabhängig davon fortsetzen können, ob das nicht vereinbarte Gericht bereits entschieden hat, das Verfahren auszusetzen.“
Der Insolvenzverwalter beantragte in London erfolglos, das Verfahren dort auszusetzen, bis das Landgericht Berlin sich für zuständig erklärt habe: Sein Antrag wurde im November 2019 vom High Court zurückgewiesen. Dessen Entscheidung bestätigte der Court of Appeal mit Urteil vom 18. Dezember 2020.
Das Landgericht Berlin hatte das dortige Verfahren auf Antrag von Etihad nach Art. 31 Abs. 2 EuGVVO bis zur abschließenden Entscheidung des High Court über seine Zuständigkeit ausgesetzt (LG Berlin, Beschluss vom 13. Mai 2020 – 95 O 60/18). Die sofortige Beschwerde des Insolvenzverwalters wies das Kammergericht zurück (KG, Beschluss vom 03. Dezember 2020 – 2 W 1009/20). Dagegen wendet sich der Insolvenzverwalter mit der vom Kammergericht zugelassenen Rechtsbeschwerde. Die Beschwerde hatte in der Sache keinen Erfolg. Der Bundesgerichtshof hatte im Wesentlichen zwei Fragen zu entscheiden, ob nämlich die Klage des Insolvenzverwalters nicht unter die EuGVVO, sondern unter die EuInsVO und deren Zuständigkeitsregime fällt, und ob eine asymmetrische Gerichtsstandsvereinbarung für die Anwendung von Art. 91 Abs. 2 EuGVVO ausreicht.
Der Bundesgerichtshof hält eingangs fest, dass die Klage des Insolvenzverwalters aus dem Comfort Letter nicht unter Bereichsausnahme nach Art. 1 II Buchst. b EuGVVO für Konkurse, Vergleiche und ähnliche Verfahren fällt:
„Nach dem im Rahmen der Zuständigkeitsprüfung maßgeblichen Vortrag des Klägers geht die Klage nicht unmittelbar aus dem Insolvenzverfahren hervor. Der der Klage zu Grunde liegende Anspruch entspringt den allgemeinen Regeln des Zivil- und Handelsrechts und nicht abweichenden Regeln für das Insolvenzverfahren.
Die Rechtsgrundlage, auf die der Kläger seinen Zahlungsanspruch stützt, ist der Comfort Letter vom 28. April 2017, mit dem die Beklagte sich der Schuldnerin gegenüber rechtlich bindend verpflichtet haben soll, diese in die Lage zu versetzen, ihre finanziellen Verpflichtungen zu erfüllen. Klagen wegen der Erfüllung von Verpflichtungen aus einem Vertrag, der vom Schuldner vor Eröffnung des Verfahrens abgeschlossen wurde, gehen nach Erwägungsgrund 35 der EuInsVO nicht aus dem Insolvenzverfahren hervor.“
Das Ziel der Parteien, mit dem Comfort Letter die Insolvenz von Air Berlin zu vermeiden, schaffe eine „bloß wirtschaftliche Verknüpfung“ mit dem Insolvenzverfahren, die nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für die Anwendung der EuInsVO nicht ausreiche.
Da die Patronatserklärung keine eigenständige Gerichtsstandsvereinbarung enthielt, stellt sich die Frage, ob sie in die Gerichtsstandsvereinbarung des Darlehensvertrags mit einzubeziehen ist und sodann die Folgefrage, wer diese Frage zu beantworten hat:
„Maßgebend ist entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde nicht das Vertragswerk, in dem die Gerichtsstandsvereinbarung enthalten ist, sondern das Rechtsverhältnis, anlässlich dessen die Zuständigkeit vereinbart wurde. Welche Rechtsstreitigkeiten in den Anwendungsbereich einer Gerichtsstandsklausel fallen, ist durch Auslegung zu ermitteln, die Sache des nationalen Gerichts ist, vor dem sie geltend gemacht wird.“
Die Prüfung des Landgerichts Berlin, das zum Ergebnis kam, die Zuständigkeit des High Court in London sei begründet, sei frei von Rechtsfehlern gewesen. Nur auf solche habe sie vom Bundesgerichtshof hin überprüft werden können:
„Die streitige Gerichtsstandsvereinbarung ist eine Individualvereinbarung, deren Auslegung Sache des Tatrichters ist. Sie kann vom Rechtsbeschwerdegericht nur eingeschränkt darauf überprüft werden, ob der Auslegungsstoff vollständig berücksichtigt ist, ob gesetzliche oder allgemein anerkannte Auslegungsregeln, Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt sind oder die Auslegung auf im Rechtsbeschwerdeverfahren gerügten Verfahrensfehlern beruht (…). Nach diesen Maßstäben ist die Auslegung des Beschwerdegerichts, dass die Gerichtsstandsvereinbarung aus dem Darlehensvertrag für die Ansprüche aus dem Comfort Letter gilt, rechtlich nicht zu beanstanden.“
Ob es für die Anwendbarkeit von Art. 31 Abs. 2 EuGVVO ausreicht, dass eine asymmetrische Gerichtsstandsvereinbarung getroffen wurde, wurde im deutschen und internationalen Schrifttum zum Teil verneint. Diese Stimmen konnten den Bundesgerichtshof nicht überzeugen:
„Art. 31 II EuGVVO ist auf einseitig ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarungen anzuwenden, wenn durch die Vereinbarung eine ausschließliche Zuständigkeit des später angerufenen Gerichts zulasten der vor dem erstbefassten Gericht klagenden Partei vereinbart wurde (…). Dieser Auffassung sind auch der High Court (…), der Court of Appeal (…) und das Spanische Gericht Nr. 5 von Alcobendas (…).
Die gegenteilige Auffassung der Rechtsbeschwerde, die sich namentlich auf Garcimartin (..) beruft, wird durch den Wortlaut von Art. 31 II EuGVVO nicht nahegelegt und läuft Sinn und Zweck der Vorschrift zuwider.
Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde bezieht sich der Verordnungswortlaut („Wird ein Gericht eines Mitgliedstaats angerufen, das gemäß einer Vereinbarung nach Art. 25 ausschließlich zuständig ist …“) durch Verwendung des Singulars nicht nur auf beidseitig bindende ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarungen, da er nichts über die Partei der Vereinbarung besagt, für die sie bindend ist und die das Gericht angerufen hat.
Die Vorschrift wurde in die EuGVVO eingefügt, um die Wirksamkeit von Gerichtsstandsvereinbarungen zu stärken und der Möglichkeit zum Missbrauch der Prioritätsregel des Art. 29 I EuGVVO (damals Art. 21 EuGVÜ) durch die Erhebung von so genannten Torpedoklagen (…) zu begegnen (Erwgr. 22).
Dieses Ziel erreicht Art. 31 II EuGVVO, indem es einer Partei, die unter Verstoß gegen eine Gerichtsstandsvereinbarung verklagt wird, die Möglichkeit gibt, durch Klageerhebung vor dem vereinbarten Gericht die Aussetzung des prorogationswidrigen Verfahrens zu erreichen. Einen Grund, einer unter Verstoß gegen eine ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarung beklagten Partei den Schutz des Art. 31 II EuGVVO zu verwehren, nur, weil sie ihrerseits in der Wahl des Gerichtsstands frei ist, ist nicht ersichtlich.“
Der Insolvenzverwalter hatte in diesem Verfahren kein Argument ausgespart und auch eingewendet, dass die EuGVVO nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union in diesem Rechtsstreit keine Anwendung mehr finde. Hier geht der Bundesgerichtshof völlig unproblematisch nach Art. 67 Abs. 1 Austrittsabkommens von einer Weitergeltung aus: Sowohl das Verfahren in Deutschland als auch das in England wurden vor Ablauf des Übergangszeitraums eingeleitet. Zur Auslegung von Art. 67 Austrittsabkommens finden sich Ausführungen im Urteil unter Rn. 40 ff.
Der Bundesgerichtshof ist schließlich der Auffassung, dass die europarechtlichen Fragen, die seiner Entscheidung zugrunde liegen, hinreichend geklärt sind, sodass eine Vorlage an den EuGH nicht erforderlich ist („acte claire“-Doktrin).
Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs überzeugt. Die asymmetrische Gerichtsstandsvereinbarung ist keine ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarung 2. Klasse, nur, weil sie ausschließlich zugunsten einer Partei wirkt.
Asymmetrische Gerichtsstandsvereinbarungen sind insbesondere in Finanzierungsverträgen beliebt, da sie der finanzierenden Partei die Möglichkeit geben, im Notfall auch rasch am Gerichtsstand des Schuldners gerichtliche Maßnahmen einleiten zu können, den Schuldner allerdings stets zur Klage am vereinbarten Gerichtsstand, also regelmäßig am Sitz der Bank, zwingen.
Die Klarstellung des Bundesgerichtshofs, dass auch für diese Klauseln Art. 31 Abs. 2 EuGVVO gilt, ist daher auch von großer praktischer Relevanz. Prozessuale „Torpedos“, die sich auf eine solche Klausel stützen, entfalten ihre Wirkung also auch dann, wenn der Kläger damit erst den zweiten Schuss abfeuert.
Im Verhältnis zu Großbritannien sollten asymmetrische Gerichtsstandsvereinbarungen allerdings dann nicht mehr verwendet werden, wenn man sich die Anerkennungs- und Vollstreckungsmöglichkeiten aus dem Haager Gerichtsstandsübereinkommen von 2005 sichern möchte, da asymmetrische Gerichtsstandsvereinbarung nicht unter dieses Abkommen fallen. Dieses Abkommen ist nach dem Brexit die einzige vertragliche Grundlage für die Anerkennung von Urteilen im deutsch-britischen Rechtsverkehr.
Etihads „English Torpedo“ dürfte das letzte seiner Art gewesen sein. In Verfahren, die nach dem Ablauf der Übergangsfrist eingeleitet wurden, besteht keine Verpflichtung der britischen bzw. deutschen Gerichte mehr, auszusetzen und Zuständigkeitsentscheidungen der anderen Rechtsordnung abzuwarten, an die sie dann gebunden sind. Die Koordinationsfunktion der EuGVVO ist ersatzlos entfallen.
tl;dr: Art. 31 Abs. 2 EuGVVO ist auf einseitig ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarungen anzuwenden, wenn durch die Vereinbarung eine ausschließliche Zuständigkeit des später angerufenen Gerichts, zulasten der vor dem erstbefassten Gericht klagenden Partei, vereinbart wurde.
Aus einer Patronatserklärung gegenüber der Schuldnerin hergeleitete Schadensersatzansprüche, die der Insolvenzverwalter klageweise geltend macht, stehen nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Insolvenzverfahren. Sie haben ihre Rechtsgrundlage im Zivil- und Handelsrechts. Auf sie findet die EuGVVO und nicht die EuInsVO Anwendung.
Diesen und weitere Beiträge von Peter Bert finden Sie auch auf zpoblog.de.
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