13. Dezember 2022
streiTWert – 25 von 66 Insights
Die Corona-Pandemie und die damit einhergehenden Hygienemaßnahmen und Kontaktbeschränkungen haben den Gerichtsbetrieb vor neue Herausforderungen gestellt. Mündliche Verhandlungen und Erörterungstermine in den Gerichtsgebäuden bargen (und bergen) nicht nur für die Richter:innen, sondern auch für die weiteren Prozessbeteiligten Gesundheitsrisiken und gingen mit erhöhtem Organisationsaufwand einher. In dieser Zeit ist die in § 128a ZPO sowie in § 185 Abs. 1a GVG schon länger geregelte Möglichkeit, von einem anderen Ort aus an einer Gerichtsverhandlung teilzunehmen und diese in Bild und Ton in das Sitzungszimmer übertragen zu lassen, in den Fokus gerückt.
Nun hat das Bundeministerium der Justiz (BMJ) am 23. November 2022 den Referentenentwurf eines Gesetzes zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten veröffentlicht. Ziel der vorgeschlagenen Neuregelungen sei es, den Einsatz von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit sowie in den Fachgerichtsbarkeiten weiter zu fördern, denn die Erfahrungen mit dem Einsatz von Videokonferenztechnik hätten Anpassungs- und Konkretisierungsbedarf bei den seit Langem unveränderten verfahrensrechtlichen Grundlagen aufgezeigt.
Der Referentenentwurf berücksichtigt nicht nur Änderungen in der Zivilgerichtsbarkeit, sondern enthält auch Anpassungen der Verfahrensgesetze der Familien-, Sozial-, Arbeits-, Finanz- und Verwaltungsgerichte. Die folgenden Ausführungen sollen die Änderungen in der ZPO und der Videoverhandlung im Besonderen in den Fokus nehmen.
Der Referentenentwurf enthält insbesondere folgende Neuerungen:
Die Neufassung des § 128a ZPO-E geht auch mit einer neuen Systematik einher. Kann das Gericht die Teilnahme im Wege der Bild- und Tonübertragung bislang nur gestatten, bestünde nun die Möglichkeit, eine Videoverhandlung gegenüber einzelnen oder allen Beteiligten anzuordnen. Die Entscheidung über die Anordnung steht dabei im pflichtgemäßen Ermessen der:des Vorsitzenden und kann von Amts wegen oder auf Antrag eines oder mehrerer Verfahrensbeteiligter getroffen werden.
Den Verfahrensbeteiligten bleibt es unbenommen, den Gerichtstermin trotz Anordnung des Gerichts in Präsenz wahrzunehmen; hierfür müssten sie jedoch innerhalb einer vom:von der Vorsitzenden gesetzten angemessenen Frist beantragen, sie von der Anordnung auszunehmen. Der Antrag bedarf keiner besonderen Begründung, sondern muss nur fristgerecht erfolgen. Beantragen die Parteien jedoch übereinstimmend die Durchführung einer Videoverhandlung, so sieht der Entwurf vor, dass das Entscheidungsermessen des Gerichts durch eine „Soll“-Vorschrift dahingehend eingeschränkt wird, dass eine Videoverhandlung in der Regel durch das Gericht anzuordnen ist. Eine ausnahmsweise ablehnende Entscheidung sei dann vom Gericht zu begründen und anfechtbar.
Auch die Richter:innen selbst können laut Entwurf per Bild- und Tonübertragung an der Verhandlung von einem anderen Ort als dem Sitzungssaal teilnehmen. Die Teilnahme kann allen Mitgliedern (vollvirtuelle Verhandlung) eines Spruchkörpers oder auch nur einzelnen Mitgliedern (Hybridlösung) gestattet werden. Eine vollvirtuelle Verhandlung könne aber nur durchgeführt werden, wenn sämtliche Verfahrensbeteiligte und – soweit vorhanden – auch die übrigen Mitglieder des Spruchkörpers per Bild- und Tonübertragung an der Videoverhandlung teilnehmen. Die Videoverhandlung ist in diesem Fall statt in das Sitzungszimmer an den Ort zu übertragen, an dem sich die:der Vorsitzende aufhält.
Zuletzt erlaubt der Entwurf des § 128a Absatz ZPO-E die Aufzeichnung der Videoverhandlung zum Zweck der vorläufigen Protokollaufzeichnung nach § 160a ZPO-E. Die Qualität des Sitzungsprotokolls soll damit im Hinblick auf Genauigkeit, Vollständigkeit und seines Beweiswerts erheblich gesteigert werden. Die Videoverhandlung darf nicht von Verfahrensbeteiligten oder Dritten aufgezeichnet werden.
Es wird klargestellt, dass der Entwurf ausschließlich Videoverhandlungen, bei denen sich alle Verfahrensbeteiligten im Inland aufhalten, adressiert. Auch wenn es in der deutschen Gerichtspraxis durchaus bereits vorzukommen scheint, dass Prozessbeteiligte – ohne vorherige Zustimmung des ausländischen Staates – per Videokonferenz aus dem Ausland zugeschaltet werden, so wird im Entwurf noch einmal verdeutlicht, dass die Videokonferenzzuschaltung von Verfahrensbeteiligten im Ausland, die grundsätzlich die territoriale Souveränität des ausländischen Staates berührt, weiterhin nur im Rahmen der Rechtshilfe möglich bleiben soll. Verwiesen wird im Zuge dessen auf den Vorschlag der Europäischen Kommission vom 1. Dezember 2021 für eine Verordnung über die Digitalisierung der justiziellen Zusammenarbeit und des Zugangs zur Justiz in grenzüberschreitenden Zivil-, Handels- und Strafsachen und zur Änderung einiger Rechtsakte im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit.
Praktische Relevanz könnten die vorgeschlagenen Änderungen vor allem für die Verfahrensbeschleunigung haben. Videoverhandlungen und Videobeweisaufnahmen erleichtern aufgrund des damit einhergehenden ersparten zeitlichen Aufwands die Terminierung von mündlichen Verhandlungen. Da die Entscheidung über eine mündliche Verhandlung in Präsenz vom Gericht abhängig wäre, könnte im Falle einer Anordnung der Videoverhandlung niemand mehr von der Gegenpartei gezwungen werden, im Gerichtssaal zu erscheinen. Auch dies würde dazu führen, dass die erschwerte Terminierung – z.B. aufgrund von weiten Anreisen und/oder Terminkollisionen – wegfällt. Ob und inwiefern die einzuführende Fristsetzung und die dagegen mögliche sofortige Beschwerde diesem Beschleunigungseffekt in der Praxis ggf. zuwiderläuft, bleibt schlicht abzuwarten. Dies hängt sicherlich u.a. auch von der hoffentlich zunehmenden Akzeptanz der Videoverhandlung als Standard ab und nicht zuletzt von der flächendeckenden und – bestenfalls – standardisierten digitalen Ausstattung der Gerichte
Zu begrüßen ist auch, dass der Entwurf vorsieht, dass das persönliche Erscheinen nach § 141 Abs. 1 ZPO auch als Teilnahme an einer Videoverhandlung angeordnet werden kann. Somit kann in der Praxis sicherlich in einigen Fällen eine bessere Sachverhaltsaufklärung aufgrund geringeren Termindrucks beim:bei der persönlich Geladenen erzielt werden.
Da durch die Möglichkeit, eine Videoverhandlung verpflichtend für alle Verfahrensbeteiligten anzuordnen, die Notwendigkeit entfallen würde, dass sich das Gericht während einer Videoverhandlung im Sitzungszimmer aufhält, müsste in der Praxis zukünftig auch daran gedacht werden, dass eine unangekündigte Teilnahme von Verfahrensbeteiligten – z.B. auch sistierte Zeugen – ausgeschlossen wäre.
Trotz einiger Stimmen, die den Referentenentwurf als illiberal oder nicht weitreichend genug ablehnen, sind die vorgeschlagenen Änderungen zu begrüßen. Das Ausschöpfen digitaler Möglichkeiten zur Durchführung von Gerichtsverhandlungen und die Festschreibung der Benutzung von Videotechnik ist nicht nur aus Kosten-, sondern auch aus Nachhaltigkeitsgesichtspunkten längst überfällig. Angesichts der bestehenden digitalen Ausstattung deutscher Haushalte, in denen laut dem Statistischen Bundesamt bereits vor der Corona-Pandemie, 90,4% über einen Personal Computer verfügten, ist es schlicht nicht mehr nachvollziehbar, warum z.B. Zeugen, Sachverständige oder Dolmetscher lange Anfahrtswege zu Gerichtsterminen auf sich nehmen sollten – es sei denn der:die Vorsitzende möchte sich ein persönliches Bild machen.
Zu begrüßen ist ferner das Konzept der Schaffung digitaler Zugangsmöglichkeiten zur Justiz für alle, denn dies ist ein unabdingbarer Schritt für eine inklusive Gesellschaft.
Zu dünn fällt im Referentenentwurf jedoch die Beleuchtung der aufzuwendenden Kosten aus, die lediglich beziffert werden. Ferner fehlen weitere Überlegungen zur notwendigen technischen Ausstattung. Denn um die vorgeschlagenen Änderungen auch sinnvoll und effizient umsetzen zu können, müssen die Gerichte in Deutschland auch großflächig mit entsprechender moderner Technik ausgestattet sein und diese sollte – alles andere wäre sinnlos – auch überall auf dem gleichen System beruhen. Nur wenn die technischen Hürden für alle Verfahrensbeteiligten so niedrig wie möglich sind, kann die anvisierte selbstverständliche Nutzung der Videoverhandlung gelingen.
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