25. November 2022
streiTWert – 24 von 63 Insights
Die Europäische Kommission hat am 28. September 2022 neben dem Vorschlag für eine Richtlinie über KI-Haftung ihren mit Spannung erwarteten Entwurf für eine neue Produkthaftungsrichtlinie veröffentlicht. Der Entwurf soll die aktuelle Produkthaftungsrichtlinie 85/374/EWG, die noch aus dem Jahr 1985 stammt, vollständig ersetzen. Die Art und Weise, wie Produkte hergestellt und vertrieben werden, hat sich in den letzten 37 Jahren erheblich verändert. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass dem Bereich der neuen digitalen Technologien einschließlich Software und Systemen künstlicher Intelligenz (KI-Systeme) eine immer größere Bedeutung zukommt, soll die verschuldensunabhängige Haftung für fehlerhafte Produkte umfassend modernisiert werden. Gleichzeitig sollen die Haftungsvorschriften an die bereits aktualisierten europäischen Vorschriften zum Produktsicherheitsrecht und zur Marktüberwachung angeglichen werden.
Der Entwurf sieht beträchtliche Änderungen vor, die fast jeden Bereich der aktuellen Produkthaftungsrichtlinie betreffen. Im Folgenden erhalten Sie einen Überblick über die wichtigsten vorgeschlagenen Neuerungen.
Der Entwurf stellt klar, dass es sich bei Software und digitalen Produktionsdateien (z.B. für 3D-Drucker) um „Produkte“ handelt, die in den Anwendungsbereich der Produkthaftungsrichtlinie fallen. Dies gilt unabhängig davon, ob die Software in ein anderes Produkt integriert ist (z.B. Navigationsdienst in einem autonomen Fahrzeug) oder ob es sich um eine eigenständige Software handelt (z.B. Smartphone-App für Medizinprodukte), die selbst Schäden verursachen kann. Die Diskussion, ob sich Software unter den Produktbegriff der „beweglichen Sache“ subsumieren lässt, muss somit zukünftig nicht mehr geführt werden. Im Ergebnis handelt es sich allerdings mehr um eine Klarstellung, als um eine wesentliche inhaltliche Neuerung.
Nach der aktuellen Richtlinie können bislang nur Hersteller, sogenannte Quasi-Hersteller und EWR-Importeure verschuldensunabhängig für fehlerhafte Produkte auf Schadenersatz in Anspruch genommen werden. Der Entwurf erweitert den Kreis potenzieller Beklagter auf Bevollmächtigte des Herstellers, Fulfillment-Dienstleister (d.h. Lager-, Verpackungs- und Versanddienstleister) und – unter engen Voraussetzungen – sogar auf Einzelhändler und Betreiber von Online-Marktplätzen. Hierdurch soll sichergestellt werden, dass der geschädigten Person auch dann ein Beklagter zur Verfügung steht, wenn das schadensursächliche fehlerhafte Produkt direkt aus einem Nicht-EU-Land gekauft wurde, und es keinen (Quasi-) Hersteller oder Importeur mit Sitz in der EU gibt.
Außerdem sollen zukünftig auch Unternehmen, die ein Produkt außerhalb der Kontrolle des ursprünglichen Herstellers im Sinne des Produktsicherheitsrechts „wesentlich verändern“, gleich einem Hersteller verschuldensunabhängig haften, wenn das veränderte Produkt fehlerhaft ist und einen Schaden verursacht. In Anlehnung an das europäische Produktsicherheitsrecht wird somit die wesentliche Veränderung eines bereits in Betrieb genommenen Produkts dem Inverkehrbringen eines neuen Produkts gleichgestellt. Konsequenterweise soll auch eine neue Verjährungsfrist beginnen, nachdem das Produkt wesentlich verändert wurde.
Wie bislang auch gilt ein Produkt nach dem Entwurf als fehlerhaft, wenn es nicht den berechtigten Sicherheitserwartungen der Allgemeinheit entspricht. Allerdings sollen zukünftig bei dieser Prüfung noch stärker die Anforderungen des Produktsicherheitsrechts berücksichtigt werden. So kann die Fehlerhaftigkeit eines Produkts nach dem Entwurf beispielsweise auch darin bestehen, dass Software-Updates fehlen, die notwendig wären, um Schwachstellen bei der Cybersicherheit des Produkts zu beheben. Daneben soll auch ein früherer Eingriff einer Regulierungsbehörde im Zusammenhang mit der Produktsicherheit, z.B. die Anordnung eines Produktrückrufs oder andere behördliche Beanstandungen, für die Fehlerhaftigkeit des Produkts sprechen.
Erwähnenswert ist ferner, dass in den Erwägungsgründen des Entwurfs die EuGH-Rechtsprechung zum Fehlerverdacht Niederschlag gefunden hat. Die Entwurfsbegründung weist darauf hin, dass bei Produkten, die ein besonders hohes Schadensrisiko mit sich bringen (z.B. lebenserhaltende Medizinprodukte), auch ohne Nachweis der Fehlerhaftigkeit des konkreten Produkts von einem Produktfehler ausgegangen werden kann, wenn das Produkt zu derselben Produktserie wie ein nachweislich fehlerhaftes Produkt gehört.
Der Entwurf hält an dem Grundsatz fest, dass der Kläger den Produktfehler, den Schaden und den Kausalzusammenhang zwischen beiden beweisen muss. Allerdings sieht der Entwurf nunmehr zugunsten des Anspruchstellers widerlegbare Tatsachenvermutungen für die Fehlerhaftigkeit des Produkts und für den Kausalzusammenhang zwischen Fehler und Schaden vor, die in der Praxis erhebliche Bedeutung hätten.
Neben einigen weiteren Vermutungstatbeständen sieht der Entwurf vor, dass sowohl die Fehlerhaftigkeit als auch der Kausalzusammenhang zwischen dem Produktfehler und dem Schaden vermutet werden kann, wenn zwei Voraussetzungen vorliegen: Erstens muss die Beweisführung für den Kläger „aufgrund der technischen oder wissenschaftlichen Komplexität übermäßig schwierig“ sein. Zweitens muss der Kläger auf „Grundlage hinreichender Beweise nachgewiesen“ haben, dass zum einen das Produkt zum Schaden beigetragen hat und zum anderen das Produkt wahrscheinlich fehlerhaft war bzw. der Fehler wahrscheinlich den Schaden verursacht hat.
Diese vorgeschlagene Beweiserleichterung wirft einige Fragen auf. Ausweislich der Entwurfsbegründung sollen die Voraussetzungen für die Vermutung zwar unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls geprüft werden. Als Faktoren für die technische oder wissenschaftliche Komplexität des Falles werden beispielhaft die Komplexität des Produkts (z.B. innovatives Medizinprodukt), die Komplexität der Technologie (z.B. KI-System oder maschinelles Lernen) und die Komplexität des Kausalzusammenhangs (z.B. zwischen der Anwendung eines Arzneimittels und einem Gesundheitsschaden) genannt werden. Der Entwurf lässt jedoch offen, wann die Beweisführung „übermäßig schwierig“ sein soll und welche Anforderungen an den „hinreichenden Beweis“ der Mitursächlichkeit des Produkts für den Schadenseintritt und die Wahrscheinlichkeit der Fehlerhaftigkeit des Produkts bzw. des Kausalzusammenhangs zwischen Fehler und Schaden zu stellen sind.
Gerichte sollen künftig auf Antrag des Klägers anordnen können, dass der Beklagte in seiner Verfügungsgewalt befindliche relevante Beweismittel offenlegen muss („disclosure of evidence“). Diese Neuerung ist ungewöhnlich. Zum einen betrifft sie das Verfahrensrecht der Mitgliedstaaten, aus dem sich der EU-Gesetzgeber im Bereich der Produkthaftung bislang weitestgehend rausgehalten hat. Zum anderen ist eine solche Offenlegung von Beweismitteln („disclosure of evidence“) außerhalb von Common Law-Staaten bislang unüblich. Das deutsche Prozessrecht kennt mit § 142 ZPO zwar eine gerichtliche Anordnung zur Vorlage bestimmter Urkunden. Zumindest nach dem Wortlaut des Entwurfs scheint die von der EU-Kommission vorgeschlagene Offenlegungspflicht jedoch über den Regelungsinhalt von § 142 ZPO hinauszugehen. Denn sie wäre nach dem derzeitigen Stand des Entwurfs wohl nicht auf die Offenlegung von Urkunden beschränkt und würde nur für den Beklagten gelten, während nach § 142 ZPO auch der Kläger zur Vorlage von Urkunden verpflichtet werden kann.
Beinhalten die offenzulegenden Beweismittel (mutmaßliche) Geschäftsgeheimnisse des Beklagten, müssen die Gerichte Maßnahmen ergreifen, um die Vertraulichkeit dieser Informationen zu wahren.
Der Entwurf lässt das Bemühen der EU-Kommission erkennen, eine exzessive Ausforschung oder „Discovery“, wie man sie aus dem angloamerikanischen Zivilprozessrecht kennt, zu vermeiden. Der Entwurf setzt für die Offenlegungspflicht voraus, dass der Kläger ausreichend Tatsachen vorgetragen und Beweismittel vorgelegt hat, die einen Schadenersatzanspruch plausibel erscheinen lassen. Zudem soll die Offenlegung von Beweismitteln auf ein erforderliches und verhältnismäßiges Maß beschränkt sein. Allerdings gilt ein derartiger Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch im angloamerikanischen Recht, ohne dass dadurch in der Praxis die aus deutscher Sicht oft exzessive und extrem aufwändige Discovery- oder Disclosure-Verfahren hinreichend eingegrenzt würden. Es wäre daher gut, wenn die neue Richtlinie entweder die Voraussetzungen und den Umfang einer etwaigen Offenlegungspflicht sehr viel genauer und noch deutlich enger formulieren würde oder – noch besser – wenn die Richtlinie schlichtweg auf eine EU-weite Vorgabe für Offenlegungspflichten gänzlich verzichten würde, so dass die Mitgliedstaaten solche Fragen weiterhin autonom nach den in ihrem jeweiligen Prozessrecht entwickelten und bewährten Regeln behandeln können.
Ausweislich der Entwurfsbegründung soll die Offenlegungspflicht die Informationsasymmetrie begegnen, die darauf zurückzuführen sei, dass geschädigte Personen häufig einen erheblichen Nachteil gegenüber den Herstellern hinsichtlich des Zugangs zu Informationen über die Herstellung und Funktionsweise des vermeintlich fehlerhaften Produkts haben. Warum aber der Beklagte nicht umgekehrt auch vom Kläger die Offenlegung relevanter Beweise (z.B. Krankenunterlagen, Schadensnachweise etc.) verlangen können soll, leuchtet vor dem Hintergrund der prozessualen Waffengleichheit nicht ein.
Der Entwurf trägt der Bedeutung von Daten im digitalen Zeitalter Rechnung und erweitert den Begriff des ersatzfähigen Schadens auf den Verlust und die Verfälschung von Daten, die nicht ausschließlich für berufliche Zwecke verwendet werden. Zu dem ersatzfähigen Schaden sollen damit künftig auch die Kosten für die Rettung bzw. Wiederherstellung der Daten dienen.
Darüber hinaus sollen die bisher geltenden Selbstbehalte (EUR 500 für Sachschäden im Einzelfall) und Haftungshöchstgrenzen (EUR 85 Mio. für alle Personenschäden aus derselben Schadensserie) ersatzlos gestrichen werden.
Bislang in der Produkthaftungsrichtlinie vorgesehene Haftungsausschlüsse sollen zum Teil weiter eingeschränkt werden. Im Grundsatz soll die Haftung der Hersteller zwar weiterhin ausgeschlossen sein, wenn der Fehler zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens des Produkts wahrscheinlich noch nicht bestanden hat (sogenannter Fehlerbereichsnachweis). Dies soll jedoch nicht mehr gelten, wenn das Produkt auch nach seinem Inverkehrbringen der Kontrolle des Herstellers unterliegt und der erst später aufgetretene Produktfehler auf die unter der Kontrolle des Herstellers stehende Software oder damit verbundene Dienstleistungen zurückzuführen ist. Diese Einschränkung zielt auf Fälle ab, in denen es der Hersteller nach Inverkehrbringen des Produkts unterlassen hat, erforderliche Software-Updates oder -Upgrades bereitzustellen, um weiterhin die Sicherheit des Produkts zu gewährleisten und Schwachstellen im Bereich der Cybersicherheit zu beheben. Diese Neuregelung würde damit für den Software-Bereich eine Ausweitung der Produkthaftung in den Post-Marketing-Bereich bedeuten.
Da die EU-Kommission neben den in diesem Beitrag besprochenen Entwurf auch einen Vorschlag für eine Richtlinie über KI-Haftung veröffentlicht hat, stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis die beiden Initiativen zueinander stehen. Zwar soll die neue Produkthaftungsrichtlinie auch auf KI-Systeme Anwendung finden. Gleichwohl wird es keine Überschneidungen zwischen den beiden Richtlinien geben. Die Einbeziehung von KI-Systemen in den Anwendungsbereich der neuen Produkthaftungsrichtlinie soll sicherstellen, dass Hersteller oder Anbieter fehlerhafter KI-Systeme, die physische Schäden, Sachschäden oder Datenverluste von Einzelpersonen verursachen, verschuldensunabhängig haften. Der Vorschlag für eine Richtlinie über KI-Haftung deckt dagegen die außervertragliche verschuldensabhängige Haftung ab, und zwar für jede Art von Schäden und zugunsten jeder Art von Geschädigten (auch juristische Personen). Indem die neue Richtlinie über die KI-Haftung eine spezifische Verschuldenshaftung für Schäden durch KI-Systeme begründen soll, sanktioniert sie letztlich die Einhaltung der produktsicherheitsrechtlichen Pflichten aus der KI-Verordnung. Durch KI-Systeme geschädigte Personen werden somit nicht die Haftungsverschärfungen und Beweiserleichterungen der neuen Produkthaftungsrichtlinie mit denen der neuen Richtlinie über KI-Haftung kombinieren können. Vielmehr sollen sich die beiden Initiativen zu einem zivilrechtlichen Haftungssystem ergänzen, um somit die Hersteller und Anbieter von KI-Systemen umfassend in die Pflicht zu nehmen und damit das Vertrauen in KI insgesamt zu fördern.
Die EU-Kommission nimmt Stellungnahmen zu dem Entwurf der Produkthaftungsrichtlinie bis zum 11. Dezember 2022 entgegen. Alle bis dahin eingegangene Rückmeldungen werden von der EU-Kommission zusammengefasst und dem Europäischen Parlament und dem Rat vorgelegt, die anschließend den Entwurf beraten werden. Nach Inkrafttreten der neuen Produkthaftungsrichtlinie sollen die Mitgliedstaaten zwölf Monate Zeit haben, um die Richtlinie in das nationale Recht umzusetzen.
Der Entwurf sieht tendenziell eine Verschärfung des Produkthaftungsregimes in Europa vor. Zukünftig müssten sich auch Wirtschaftsakteure, die bislang keinem Produkthaftungsrisiko ausgesetzt waren, intensiver mit haftungsrechtlichen Fragen der Produktverantwortung befassen. Aus Unternehmenssicht bleibt zudem abzuwarten, wie die recht unbestimmte Beweiserleichterung zu Gunsten des Klägers „in komplexen Fällen“ und die Pflicht des Beklagten zur Offenlegung „relevanter Beweismittel“ in der finalen Fassung der neuen Produkthaftungsrichtlinie genau aussehen wird und wie diese neuen Regeln dann anschließend von den Mitgliedstaaten umgesetzt werden. Zu begrüßen ist das Ziel, das Produkthaftungsrecht im Bereich der neuen digitalen Technologien zu modernisieren. Von den in diesem Beitrag angesprochenen Punkten abgesehen, sieht der Entwurf in weiten Teilen eher Klarstellungen und Anpassungen vor als bahnbrechende Neuerungen.
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