7. Dezember 2021
streiTWert – 48 von 66 Insights
Vor knapp einer Woche haben die Parteispitzen des neuen Dreierbündnisses aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP ihren Koalitionsvertrag mit dem Titel „Mehr Fortschritt wagen“ vorgestellt. Dem „Verbraucherschutz“ sind darin nicht nur zwei Kapitel gewidmet (sozialer und finanzieller Verbraucherschutz), er zieht sich auch durch zahlreiche Themenbereiche, wie etwa Digitale Infrastruktur, Fairer Wettbewerb, Ernährung, Chemikalienpolitik und Finanzmarkt Deutschland. Um den Verbraucherschutz auch rechtlich voranzutreiben, soll der kollektive Rechtsschutz ausgebaut werden, dies insbesondere durch die Umsetzung der europäischen Verbandsklage-Richtlinie in nationales Recht:
„Wir bauen den kollektiven Rechtsschutz aus. […] Die EU-Verbandsklagerichtlinie setzen wir anwenderfreundlich und in Fortentwicklung der Musterfeststellungsklage um und eröffnen auch kleinen Unternehmen diese Klagemöglichkeiten. An den bewährten Anforderungen an klageberechtige Verbände halten wir fest.“
(Kapitel Justiz, Seite 106 des Koalitionsvertrags)
Die Verbandsklage-Richtlinie ist letztes Jahr in Kraft getreten und sieht eine Umsetzungsfrist bis Dezember 2022 vor (siehe hierzu den Beitrag von Volker Herrmann, Donata Freiin von Enzberg und Kerstin Bär vom 29. Januar 2021). Neben der Musterfeststellungsklage stellt dies eine neue und weitergehende Klagemöglichkeit, deren Gegenstand und Zweck nach Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie der „Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher […] bei gleichzeitiger Festlegung angemessener Schutzmaßnahmen zur Verhinderung von Klagemissbrauch“ ist. Größter Unterschied ist, dass eine Verbandsklage auch auf Abhilfe, beispielsweise in Form von Schadenersatz oder einer Ersatzleistung, und nicht lediglich auf Feststellung gerichtet sein kann.
Die Verbandsklage-Richtlinie regelt nicht jeden Aspekt der Verbandsklage, sondern sieht einen Mindestschutz für Verbraucher vor, den Mitgliedsstaaten bei der Umsetzung erweitern können (mit einigen interessanten Umsetzungsfragen für den deutschen Gesetzgeber setzt sich Matthias Swiderski in seinem Beitrag vom 18. November 2021 auseinander).
Um Klagemissbrauch zu verhindern, sieht die Verbandsklage-Richtlinie vor, dass lediglich „qualifizierte Einrichtungen“ klagebefugt sein sollen. Dies sind Organisationen oder öffentliche Stellen, welche die Verbraucherinteressen vertreten und die von einem Mitgliedsstaat als für die Erhebung von Verbandsklagen qualifiziert benannt wurden. So können etwa Verbraucherverbände stellvertretend für geschädigte Verbraucher gegen Unternehmen auf Unterlassung oder Schadenersatz klagen. Die Richtlinie selber regelt die für eine qualifizierte Einrichtung zu erfüllenden Kriterien nur für die grenzüberschreitende Verbandsklage, also für den Fall, dass beispielsweise eine in Deutschland benannte qualifizierte Einrichtung in Frankreich klagen möchte. Die weitere Ausgestaltung bzw. Regelung der innerstaatlichen Verbandsklage überlässt die Richtlinie den einzelnen Mitgliedsstaaten:
„Im Einklang mit dem Grundsatz der Verfahrensautonomie sollte die vorliegende Richtlinie nicht dazu dienen, jeden Aspekt der Verbandsklage zu regeln. Dementsprechend obliegt es den Mitgliedstaaten, die für Verbandsklagen geltenden Vorschriften beispielsweise hinsichtlich der Zulässigkeit, der Beweismittel oder der Rechtsbehelfe festzulegen. So sollten beispielsweise die Mitgliedstaaten entscheiden, welchen Grad der Ähnlichkeit die Einzelansprüche aufweisen müssen oder welche Mindestzahl von Verbrauchern von einer Verbandsklage auf Abhilfe betroffen sein muss, damit eine Verbandsklage in einer Angelegenheit zulässig ist.“
(Erwägungsgrund 12 der Verbandsklage-Richtlinie)
Mitgliedsstaaten können daher für innerstaatliche Verbandsklagen abweichende Anforderungen stellen, die allerdings stets mit den Zielen der Richtlinie vereinbar sein und ein wirksames sowie effizientes Funktionieren der Verbandsklage gewährleisten müssen. Die Richtlinie sieht darüber hinaus die Option vor, die Kriterien für grenzüberschreitende Verbandsklagen auch innerstaatlich anzuwenden.
Laut Koalitionsvertrag soll bei der Umsetzung der Verbandsklage-Richtlinie an den „bewährten Anforderungen an klageberechtigte Verbände“ festgehalten werden. Nur was bedeutet dies und stellt dies eine „anwenderfreundliche“ Umsetzung der Richtlinie dar?
Bei den bewährten Anforderungen fällt der Blick unweigerlich auf die Musterfeststellungsklage, denn auch bei dieser sind qualifizierte Einrichtungen zur Klage berechtigt. Vergleicht man nun die Regelungen der Musterfeststellungsklage mit den in der Richtlinie aufgestellten Kriterien der Klagebefugnis für grenzüberschreitende Verbandsklagen, fällt zunächst auf, dass eine Ähnlichkeit besteht. Es soll jeweils ein gewisses Maß an Beständigkeit und (finanzieller) Unabhängigkeit gewähreistet sein.
Unterschiede bestehen allerdings insbesondere mit Blick auf folgende Punkte: Die Verbandsklage-Richtlinie setzt bei grenzüberschreitenden Verbandsklagen voraus, dass eine Einrichtung seit zwölf Monaten zum Schutz von Verbraucherinteressen öffentlich tätig ist. Die entsprechende Regelung zur Musterfeststellungsklage ist hier enger gefasst, da diese den Bestand der qualifizierten Einrichtung im Zeitpunkt der Klageerhebung seit mindestens vier Jahren fordert.
Weiter sieht die Musterfeststellungsklage besondere Zulässigkeitsvoraussetzungen vor, die sich in der Verbandsklage-Richtlinie nicht wiederfinden, allerdings von den Mitgliedsstaaten festgelegt werden können. So müssen in der Musterfeststellungsklage die Ansprüche von mindestens zehn Verbrauchern betroffen sein und sich innerhalb von zwei Monaten nach der öffentlichen Bekanntmachung der Klage mindestens 50 Verbraucher wirksam anschließen.
In beiden Punkten würde eine sich an den bewährten Klagebefugnisanforderungen der Musterfeststellungsklage orientierte Umsetzung dazu führen, dass die Klagebefugnis für innerstaatliche Verbandsklagen im Vergleich zu den in der Richtlinie für die grenzüberschreitenden Fälle angelegten Regelungen verengt würde. Inwieweit weitere Kriterien, die die Unabhängigkeit der qualifizierten Einrichtung gewährleisten sollen, im Rahmen der Umsetzung enger oder weiter gefasst werden, bleibt abzuwarten. Insbesondere wird sich zeigen, ob dies zumindest teilweise mit dem Verständnis der Verbraucher von Anwenderfreundlichkeit übereinstimmen wird. Denn bereits bei Einführung der Musterfeststellungsklage hatten Verbraucherschützer angemahnt, dass eine zu eng gefasste Klagebefugnis, wie dies bei der Musterfeststellungsklage aus ihrer Sicht der Fall ist, Instrumenten des kollektiven Rechtsschutzes ihre Schlagkraft nehmen würde.
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