8. Juli 2021
streiTWert – 59 von 65 Insights
Bereits zu Beginn der Corona-Pandemie, als die Folgen des Virus für die Wirtschaft bei Weitem noch nicht absehbar waren, wurden erste Stimmen laut, die Unternehmen zur Durchsicht und ggf. Überarbeitung ihrer Verträge mit Lieferanten aufforderten. So sollten – sofern noch nicht geschehen – in die Lieferantenverträge sogenannte „Force Majeure“-Klauseln, zu Deutsch „Höhere Gewalt“-Klauseln, aufgenommen werden. Diese Klauseln regeln die rechtlichen Beziehungen der Vertragspartner im Fall von höherer Gewalt. Zwischenzeitlich sind 15 Monate vergangen. Bei vielen Unternehmen ist die Anpassung der Verträge unterblieben – der Hinweis auf die Pandemie erfolgt dennoch regelmäßig, wenn es derzeit zu Problemen in Lieferverträgen kommt. Wie ist das zu bewerten?
In diesem Beitrag beleuchten wir, inwieweit die Corona-Pandemie 15 Monate nach deren Beginn als Fall höherer Gewalt gewertet werden kann und welche Handlungsmöglichkeiten Unternehmen haben, falls sich die fehlende Leistungsfähigkeit des Lieferanten anbahnt.
Da eine Pandemie dieses Ausmaßes ein wohl bisher nie da gewesenes Phänomen darstellt, umfassen auch viele „Force Majeure“-Klauseln die Epidemie bzw. Pandemie nicht ausdrücklich als Fall der höheren Gewalt. So wird in den Klauseln zumeist nach einer stichpunktartigen Aufzählung von Beispielsfällen wie Krieg, Naturkatastrophen, Streiks etc. nur pauschal auf „sonstige Fälle höherer Gewalt“ verwiesen. Findet sich in der Klausel keine ausdrückliche Definition, so kann auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) zurückgegriffen werden. Dieser definiert höhere Gewalt als ein „außergewöhnliches, betriebsfremdes, von außen durch elementare Naturkräfte oder Handlungen dritter Personen herbeigeführtes Ereignis, das nach menschlicher Einsicht und Erfahrung unvorhersehbar ist und mit wirtschaftlich erträglichen Mitteln auch durch äußerste Sorgfalt nicht verhütet oder unschädlich gemacht werden kann“ (BGH Urt. v. 30.5.1974 – III ZR 190/71). Nach heutigen Erkenntnissen lässt sich die Corona-Pandemie – jedenfalls zum Zeitpunkt ihres Ausbruches – grundsätzlich unproblematisch unter den vom BGH verstandenen Begriff der höheren Gewalt subsumieren. Indiziell kann hierfür unter anderem auf die Erklärungen des Auswärtigen Amtes und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zurückgegriffen werden. Die Corona-Pandemie stellt sowohl für den Lieferanten als auch für den Kunden ein von außen kommendes Ereignis dar, das seinen Ursprung nicht betriebsintern hat. Da ein Virus von diesem Umfang derart außergewöhnlich ist, war die rapide Verbreitung nicht vorhersehbar und selbst bei Anwendung größter Sorgfalt weder für den Lieferanten noch den Kunden vermeidbar. Zudem stellten und stellen die WHO und das Auswärtige Amt beinahe täglich neue Warnung und Empfehlungen im Umgang mit der Corona-Pandemie auf.
Bei Beantwortung der Frage welche Rechtsfolgen ein „Force Majeure“ Ereignis hat, muss danach unterschieden werden, ob in den entsprechenden Verträgen eine „Force Majeure“-Klausel enthalten ist.
Haben die Parteien eine entsprechende Klausel vereinbart, so sind zunächst die dort genannten Rechte und Pflichten maßgeblich. „Force Majeure“-Klauseln enthalten häufig eine Anzeige- oder Hinweispflicht der Parteien, wenn ein Fall höherer Gewalt vorliegt oder die äußeren Umstände einen solchen andeuten. Danach muss der Lieferant, in dessen Betrieb sich Lieferschwierigkeiten anbahnen oder bereits eingetreten sind, den Kunden innerhalb einer geregelten Frist oder unverzüglich über die (bevorstehenden) Lieferausfälle, aufgrund eines Ereignisses höherer Gewalt, in Kenntnis setzen. Diese Hinweispflichten stellen eine Obliegenheit und damit eine Nebenpflicht des Lieferanten dar. Kommt der Lieferant seiner Anzeigepflicht nicht oder nur verspätet nach, kann dies zu einem Schadenersatzanspruch des Kunden führen, wenn sich dieser beispielsweise bei (rechtzeitiger) Anzeige des Lieferausfalls die erforderlichen Waren noch bei anderen Anbietern hätte beschaffen können. Im deutschen Recht kann ein solcher Schadenersatzanspruch wegen Verletzung einer Nebenpflicht auf §§ 280 I, 241 II BGB gestützt werden.
Enthalten die entsprechenden Verträge hingegen keine „Force Majeure“-Klausel, muss auf die gesetzlichen Regelungen zurückgegriffen werden. Wenn ein (internationaler) Liefervertrag deutschem Recht unterworfen und – was typischerweise der Fall sein wird – die Regeln des UN-Kaufrechts (CISG) ausgeschlossen wurden, verbleibt es bei den Regeln des Bürgerlichen Gesetzbuches. Das BGB kennt die „höhere Gewalt“ nur im Zusammenhang mit der Hemmung der Verjährung (§ 206 BGB) und der Haftung des Gastwirtes (§ 701 III BGB). Spezielle vertragsrechtliche Regelungen für Fälle der höheren Gewalt kennt das BGB hingegen nicht, sodass die allgemeinen gesetzlichen Grundlagen gelten.
Denkbar wäre in diesem Zusammenhang, dass der Lieferant von seiner Leistungspflicht gem. § 275 BGB befreit ist, wenn die Erbringung der von ihm geschuldeten Leistung unmöglich ist. In Betracht kommt weiterhin ein Anpassungsrecht des Lieferanten nach § 313 BGB, wenn sich die Umstände, die zur Grundlage des Vertrags geworden sind, nach Vertragsschluss durch die Corona-Pandemie schwerwiegend verändern. Beides kann nicht generell entschieden werden, sondern ist immer eine Frage des Einzelfalles. Dessen ungeachtet sollte ein Kunde, sobald es von den Lieferschwierigkeiten des Lieferanten erfährt, dem Lieferanten eine angemessene Frist zur Lieferung der bestellten Ware setzen. Dies ist zwingend erforderlich, da alle weiteren Rechte des Kunden wie Rücktritt oder Schadenersatz den erfolglosen Ablauf einer gesetzten Frist voraussetzen. Die Frist kann jedoch erst gesetzt werden, wenn der Anspruch auf Lieferung der entsprechenden Waren fällig geworden ist. Zu beachten ist, dass es auch im deutschen Recht eine Schadensabwendungs- und Minderungspflicht gibt. Diese findet sich in § 254 II S. 1 BGB. Dies führt dazu, dass auch ohne „Force Majeure“-Klausel sowohl Lieferanten als auch Kunden ihre Vertragspartner frühzeitig über etwaige Lieferschwierigkeiten in Kenntnis setzen müssen.
Angesichts der Dauer der Corona-Pandemie stellt sich jedoch die Frage, ob überhaupt noch ein „Force Majeure“ Ereignis vorliegt. Nach der angeführten Rechtsprechung des BGH liegt ein solches nur vor, wenn es nach menschlicher Erfahrung unvorhersehbar und mit wirtschaftlich erträglichen Mitteln nicht verhütet werden kann. Wurde daher nach den ersten Wochen der Corona-Pandemie mit einhergehenden Lockdown-Maßnahmen ein Liefervertrag geschlossen, welcher fixe Lieferfristen vorsieht, wird der Einwand, wenn es zum Lieferverzug kommt, dass aufgrund des Hygienekonzepts nur mit geringerer Belegschaft und daher langsamer produziert werden konnte oder dass der Betrieb zeitweise gänzlich eingestellt werden musste, kaum den Eintritt eines „Force Majeure“ Ereignisses rechtfertigen. Dies gilt ebenso für Verzögerungen im Transport oder etwa für Schwierigkeiten bei der Einreise in ein anderes Land, wenn etwa eine auszuliefernde Maschine von Technikern des Herstellers zur Inbetriebnahme am Standort des Kunden begleitet werden soll. So hat bspw. die USA bereits im März 2020 strikte Einreisebeschränkungen erlassen, welche im Wesentlichen fortgelten. Auch wenn nicht vorhersehbar ist, wie lange derartige Restriktionen gelten, entspricht es nicht der vom BGH geforderten „äußersten Sorgfalt“, wenn in Kenntnis davon vertraglich eben eine solche Inbetriebnahme bei einem Vertragsabschluss etwa im August 2020 bei einer fix vereinbarten Lieferung für Februar 2021 zugesichert wird, ohne auch nur eine Öffnungsklausel im Hinblick auf die zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses bereits hinlänglich bekannten Folgen der Corona-Pandemie im Vertrag aufzunehmen. In einem solchen Fall wird es bei der Feststellung „Pacta sunt servanda“ verbleiben. Die Corona-Pandemie ist nicht geeignet, auf unbestimmte Zeit, wie dies in den Anfangswochen sicherlich möglich war, ein Leistungsverweigerungsrecht zu begründen.
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