16. Februar 2022
streiTWert – 45 von 65 Insights
Nordrhein-Westfalen hat zum 1. Januar 2022 eine landesweite ausschließliche Zuständigkeit für M&A-Streitigkeiten beim Landgericht Düsseldorf geschaffen. Weitere Spezialzuständigkeiten gehen für den Bereich Informationstechnologie und Medientechnik nach Köln und für die Erneuerbaren Energien nach Essen und Bielefeld. Dazu startet NRW für das "bundesweit einzigartige Kompetenzprojekt" unter www.qualitylaw.nrw einen eigenen Internetauftritt.
Nordrhein-Westfalen macht mit der „Verordnung über die gerichtliche Zuständigkeit für Streitigkeiten aus den Bereichen der Unternehmenstransaktionen (Mergers & Acquisitions), der Informationstechnologie und Medientechnik sowie der Erneuerbaren Energien“ vom 22. November 2021 als erstes Bundesland Gebrauch von den Konzentrationsermächtigungen in §§ 13a, 72a und 113a GVG, die mit Wirkung zum 1. Januar 2021 durch Gesetz vom 12. Dezember 2019 neu gefasst wurden.
Der Gesetzgeber gab den Ländern damals auf, zum 1. Januar 2021 Spezialkammern und -senate für Kommunikations- und die Informationstechnologie, Erbrecht, insolvenzbezogene Streitigkeiten und Anfechtungssachen sowie Pressesachen einzurichten.
Neben die Pflicht zur Schaffung dieser Spruchkörper trat die Kür: Die Landesregierungen wurden ermächtigt, landesweit weitere spezialisierte Spruchkörper einzurichten (§§ 72a, 119a GVG) und Rechtsstreitigkeiten an ausgesuchten Gerichten zu konzentrieren (§ 13a GVG). Der Gesetzgeber stellte fest, die zum 1. Januar 2018 für Bau-, Arzthaftungs-, Bank- und Versicherungssachen geschaffenen obligatorischen Spezialspruchkörper seien "seither allseits begrüßt" worden. Daher solle die Spezialisierung fortgeführt werden:
"Gerichtliche Verfahren erfordern in vielen Bereichen neben der Kenntnis des Prozessrechts und des materiellen Rechts ein tiefgreifendes Verständnis für die zu beurteilenden Sachverhalte sowie die damit verbundenen speziellen rechtlichen, naturwissenschaftlichen und technischen Fragestellungen. Mit der Spezialisierung wird die Qualität richterlicher Arbeit gesteigert und eine effiziente Verfahrensführung begünstigt. Rechtsanwälte haben sich bereits seit längerem auf bestimmte Rechtsmaterien spezialisiert. (...) Eine inhaltlich voranschreitende und flächendeckende Spezialisierung erfordert flankierend flexiblere Möglichkeiten der Länder beziehungsweise der Landesjustizverwaltungen zur weiteren Spezialisierung und zur Konzentration von Verfahren bei bestimmten Gerichten."
Übersteigt der Streitwert EUR 500.000, dann ist das Landgericht Düsseldorf in NRW ausschließlich zuständig für Streitigkeiten aus Unternehmenstransaktionen, die die Verordnung so definiert:
"1. Streitigkeiten aus Kauf- oder Tauschverträgen, deren wesentlicher Vertragsgegenstand ein Unternehmen oder Unternehmensanteil ist, insbesondere Streitigkeiten
a) aus dem Kauf oder Verkauf von Unternehmen, Unternehmensteilen oder Unternehmensbeteiligungen oder
b) aus einem solchen Kauf oder Verkauf vorgelagerten Vertragsverhandlungen.
2. Streitigkeiten aus dem Erwerb eines Unternehmens oder Unternehmensanteils im Wege der gesellschaftsrechtlichen Auseinandersetzung und
3. Streitigkeiten aus Umwandlungsverträgen, die einen Vorgang im Sinne von § 1des Umwandlungsgesetzes vom 28. Oktober 1994 (BGBl. I S. 3210; 1995 I S. 428) in der jeweils geltenden Fassung regeln."
Das Landgericht Düsseldorf bewirb sein neues Angebot unter anderem damit, man biete den Parteien in M&A-Streitigkeiten ein „Höchstmaß an Flexibilität in der Verfahrensgestaltung“. Weiter heißt es:
„Die drei zuständigen Richterinnen und Richter am Landgericht Düsseldorf verfügen über eine jahrelange Erfahrung mit umfangreichen wirtschaftsrechtlichen Streitigkeiten. Sie garantieren Neutralität und Kompetenz im Verfahren und bei der Entscheidung. (…) Die Richterinnen und Richter führen mit den Parteien Vorbesprechungen, um eine optimale Strukturierung des Verfahrens zu erreichen (case management). Es besteht die Möglichkeit, in englischer Sprache zu verhandeln und Zeugen zu vernehmen sowie englischsprachige Dokumente vorzulegen. Verhandlungen und Beweisaufnahmen können zusammenhängend an mehreren Tagen stattfinden. Diese Flexibilität ermöglicht eine zügige und an den zeitlichen Bedürfnissen der Parteien ausgerichtete Bearbeitung tatsächlich und rechtlich komplexer Sachverhalte auf höchstem juristischen Niveau. (…) Jederzeitige Videoverhandlungen und/oder Simultanübersetzungen sind möglich. Für die Parteien stehen Beratungsräume zur Verfügung.“
Der Vorsitzende Richter der Kammer sei unter anderem durch eine „[m]ehrjährige Anwaltstätigkeit in London und Düsseldorf im Bereich Unternehmenstransaktionen, Gerichts- und Schiedsverfahren“ ausgewiesen.
Die Botschaft ist klar: Die Justiz will die Herausforderung durch die privaten Schiedsgerichte annehmen. Es sei allerdings der Hinweis erlaubt, dass – das Einverständnis der Parteien vorausgesetzt - alle Gerichte mit ausreichenden Sprachkenntnissen die mündliche Verhandlung unter Verzicht auf eine Übersetzung in englischer Sprache durchführen können. Mehr ist auch in Düsseldorf noch nicht möglich: Das neue Spezialgericht ist keine „Kammer für internationale Handelssachen“, für die es nach wie vor an einer gesetzlichen Grundlage fehlt. Auch die Strukturierung von Verfahren in der oben skizzierten Art und Weise ist bereits jetzt bei jedem Gericht möglich.
Für die Spezialzuständigkeiten dieser Gerichte gilt jeweils eine Streitwertgrenze von EUR 100.000. Das Landgericht Köln ist ausschließlich zuständig für Streitigkeiten auf dem Gebiet der Kommunikations- und Informationstechnologie (§ 348 Abs. 1 Nr. 2 j) ZPO), "insbesondere aus
1. der Entwicklung, Herstellung, Veräußerung, Wartung, Reparatur oder Gebrauchsüberlassung von Hardware und Software, insbesondere von Computern, auch soweit es sich um Teile von Maschinen und Anlagen handelt, oder
2. Dienstleistungen mit Bezug zur Informations- und Kommunikationstechnologie, zum Beispiel IT-Beratungsverträge oder IT-Unterrichtsverträgen."
Die Spezialzuständigkeit für die Erneuerbaren Energien teilen sich Bielefeld und Essen wie folgt: Essen ist zuständig für alle Landgerichtsbezirke aus den Bezirken der Oberlandesgerichte Köln und Düsseldorf sowie für die Bezirke der Landgerichte Essen und Bochum. Bielefeld ist die Zuständigkeit für die Bezirke der Landgerichte Arnsberg, Bielefeld, Detmold, Dortmund, Hagen, Münster, Paderborn und Siegen zu gewiesen. Inhaltlich geht es um
"a) Streitigkeiten, deren wesentlicher Gegenstand eine Anlage oder deren Komponenten betrifft, die
aa) die Voraussetzung von § 3 Nummer 1 des Erneuerbare-Energien-Gesetzes vom 21. Juli 2014 (BGBl. I S. 1066) in der jeweils geltenden Fassung erfüllt oder
bb) die Abkehr von fossilen Energieträgern und die Förderung von erneuerbaren Energien zum Ziel hat, beispielsweise Biogasanlagen zur Herstellung von Biomethan, Fernwärmeanlagen, Wärmepumpen, Anlagen zur Herstellung von Wasserstoff oder Solarthermieanlagen zur Warmwassergewinnung, insbesondere solche aus der Entwicklung, Herstellung, Veräußerung, Installation, Wartung, Reparatur, Gebrauchsüberlassung oder Beschädigung von entsprechenden Anlagen oder deren Komponenten, aus Dienstleistungen auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien, zum Beispiel Beratungsverträge, oder im Zusammenhang mit der Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien, und
b) Streitigkeiten über Ansprüche aus § 13 oder aus §19 des Erneuerbare-Energien-Gesetzes."
Auch die Richterinnen und Richter dieser Kammern werden unter "Quality Law" mit Bild und Kurzbiographie präsentiert.
Unabhängig von „QualityLaw NRW“ sind am 1. Januar 2022 zwei weitere Konzentrationsverordnungen in Kraft getreten, nämlich die Verordnung über die gerichtliche Zuständigkeit in Geschäftsgeheimnisstreitsachen und die entsprechende Verordnung für Wettbewerbsstreitsachen vom 1. Oktober 2021. Auf diesen Rechtsgebieten ist nunmehr das Landgericht Düsseldorf im OLG-Bezirk Düsseldorf, das Landgericht Bochum im OLG-Bezirk Hamm und das Landgericht Köln im OLG-Bezirk Köln zuständig.
Am ausgeprägtesten ist das Wettbewerbsverhältnis zwischen der staatlichen Justiz und der Schiedsgerichtsbarkeit bei den Unternehmenstransaktionen. Düsseldorf hat mit seinen Patentkammern und -senaten bereits erfolgreich eine Spezialkompetenz aufgebaut und sich auch international beachtliche Marktanteile erarbeitet. Die Justiz hat dort bewiesen, dass sie Spezialisierung "kann", insbesondere mit der dazugehörigen Personalpolitik. Allerdings stehen die Gerichte bei den klassischen Patentstreitigkeiten nicht in gleichem Maße im Wettbewerb zu den privaten Schiedsgerichten, wie das bei den gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten und insbesondere den Post-M&A-Streitigkeiten der Fall ist. Es bleibt abzuwarten, ob der Düsseldorfer Justiz - marketingtechnisch gesprochen - der "Imagetransfer" vom Patentrecht zu den Unternehmenstransaktionen gelingt.
Als problematisch könnte sich die starre Streitwertgrenze erweisen, und zwar zum einen aus der ex ante-Perspektive der Parteien, und zum anderen aus dem Gesichtspunkt der Spezialisierung der Spruchkörper: Wenn die Parteien beim Abschluss eines Unternehmenskaufvertrags eine Schiedsklausel vereinbaren, dann können sie sich sicher sein, dass ihr Fall auch beim (spezialisierten) Schiedsgericht landet, selbst wenn der Streitwert niedriger ausfällt als erwartet. Im NRW-Modell haben sie diese Sicherheit nicht: Wird die Streitwertgrenze noch so knapp verfehlt, bleibt es bei der Zuständigkeit einer nicht spezialisierten Kammer. Zudem sind feste Streitwertgrenzen unter dem Gesichtspunkt der Spezialisierung generell kontraproduktiv (siehe dazu Bert/Windau, Weg mit der Streitwertgrenze, NJW 50/2021, 14). Es wäre zu überlegen, ob die Parteien die Möglichkeit haben sollten, unabhängig vom Streitwert die Zuständigkeit des Spezialgerichts zu vereinbaren. Ebenso wäre es eine Überlegung wert, zunächst mit einer niedrigeren Streitwertgrenze an den Start zu gehen und zu beobachten, wie sich das Fallaufkommen entwickelt.
Und es stellen sich weitere spannende Fragen: Werden sich andere Bundesländer anschließen - wird es gar zur Konzentration von Streitigkeiten über die Landesgrenzen hinweg kommen, die § 13a GVG ermöglicht? Baden-Württemberg ist mit den "Commercial Courts" in Mannheim und Stuttgart vorangegangen, freilich ohne dabei von der Konzentrationsmöglichkeit nach dem GVG Gebrauch zu machen. Einerseits wären weitere spezialisierte Gerichte wünschenswert, andererseits sollten gerade mit Blick auf den Gerichtsstandort Deutschland im internationalen Wettbewerb Kannibalisierungseffekte und eine Kleinteiligkeit bei den Spezialgerichten vermieden werden. In einer idealen Welt würden die Bundesländer sich untereinander abstimmen und ihre Spezialgerichte im Rahmen eines bundesweiten Masterplans schaffen.
Diesen und weitere Beiträge von Peter Bert finden Sie auch auf zpoblog.de.
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