Autor

Florian Lambracht

Senior Associate

Read More
Autor

Florian Lambracht

Senior Associate

Read More

5. Mai 2022

streiTWert – 36 von 61 Insights

Schmerzensgeld: BGH verwirft die sog. taggenaue Berechnung

  • Briefing

Wie berechnet man ein angemessenes Schmerzensgeld? Kann man die infolge eines Unfalls erlittenen Schmerzen anhand von Tagessätzen für die Dauer des Aufenthalts auf einer Intensiv- oder Normalstation eines Krankenhauses hochrechnen? Mit diesen Fragen setzte sich jüngst der BGH auseinander. Denn es entsprach insbesondere der Rechtsprechung des OLG Frankfurt a. M., diese sog. taggenaue Berechnung des Schmerzensgeldes mithilfe von Tagessätzen vorzunehmen. Der BGH (Urt. v. 15. Februar 2022 – VI ZR 937/20) hält dies nicht für interessengerecht, fordert statt einer kleinteiligen Berechnung eine individuelle Gesamtbetrachtung des erlittenen Leids und verwirft damit die taggenaue Berechnung.

Sachverhalt

Der Kläger wurde bei einem Verkehrsunfall erheblich verletzt und verbrachte infolgedessen über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren insgesamt mehr als 500 Tage im Krankenhaus. Neben zahlreichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen musste letztlich der rechte Unterschenkel amputiert werden. Gerichtlich macht der Kläger u.a. Schmerzensgeldansprüche gegen den Fahrer, Halter und den Haftpflichtversicherer des unfallverursachenden Pkw geltend.

Die Vorinstanzen

In erster Instanz hat das Landgericht Darmstadt zunächst ein Schmerzensgeld in Höhe von EUR 100.000 zuerkannt. Auf die Berufung des Klägers hin, hat das OLG Frankfurt a. M. das erstinstanzliche Urteil abgeändert und das Schmerzensgeld unter Anwendung der taggenauen Berechnungsmethode auf EUR 200.000 erhöht. Die Beklagten erachteten dies als überhöht und begehrten vor dem BGH die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils hinsichtlich des Schmerzensgeldes.

Die im Berufungsverfahren angewandte taggenaue Berechnung des Schmerzensgeldes folgt drei Rechenschritten:

  • Auf der ersten Stufe werden Tagessätze für bestimmte Behandlungsphasen ermittelt und anschließend addiert. Die Staffelung erfolgt anhand der regelmäßig einhergehenden Lebensbeeinträchtigung in den unterschiedlichen Behandlungsphasen. Das OLG Frankfurt a. M. berechnete die jeweilige Tagessatzhöhe ausgehend von eigens festgelegten Prozentsätzen eines durchschnittlichen Pro-Kopf-Bruttonationaleinkommens: EUR 150 pro Tag für den Aufenthalt auf einer Intensivstation, EUR 100 pro Tag auf einer Normalstation, EUR 60 pro Tag in einer Rehabilitationsklinik und EUR 40 pro Tag bei 100% Grad der Schädigung.
  • In einem weiteren Rechenschritt können von der taggenau errechneten Summe individuelle Zu- und Abschläge je nach Gestaltung und Schwere des Falles vorgenommen werden. Ein Abschlag kann beispielsweise bei erheblichen Vorerkrankungen erfolgen, da man unter Berücksichtigung dieser von einem „verkürzten“ Leid bzw. Schmerz aufgrund der geringeren Lebenserwartung ausgeht.
  • Als letzter Rechenschritt kann das Schmerzensgeld für Dauerschäden oder besonders schwerwiegende Verfehlungen des Schädigers abschließend erhöht werden.

Entscheidung des Bundesgerichtshofs

Der BGH ist der Ansicht, dass die taggenaue Berechnung dem Einzelfall nicht gerecht werde. Der BGH hat die Entscheidung des Berufungsgerichts aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das OLG Frankfurt a. M. zurückverwiesen.

Maßgebend sei für die Schmerzensgeldhöhe „im Wesentlichen die Schwere der Verletzungen, das durch diese bedingte Leid, dessen Dauer, das Ausmaß der Wahrnehmung der Beeinträchtigung durch den Verletzten und der Grad des Verschuldens des Schädigers“. Es sei in erster Linie die Höhe und das Maß der entstandenen Lebensbeeinträchtigung zu berücksichtigen. Die zu ermittelnde einheitliche Entschädigung lasse sich vor diesem Hintergrund „nicht streng rechnerisch ermitteln“.

Rechtliche Einordnung

Es ist dem BGH zuzustimmen, dass die schematische Berechnung der Schmerzensgeldhöhe dem individuellen Fall nicht Genüge tut. Das generelle Abstellen auf die Anzahl der Tage der verschiedenen Behandlungsphasen, ob nun auf einer Intensiv- oder Normalstation eines Krankenhauses, und die Errechnung der dem Geschädigten, basierend auf der voraussichtlichen Lebenserwartung, verbleibenden Tage mit der dauerhaften Lebenseinschränkung, wird dem individuellen Fall und Leid nicht gerecht. Denn Schmerzen und ein daraus folgendes Schmerzensgeld können gerade nicht durch eine Konzentrierung auf die Dauer des Leids und weniger auf die Größe und Heftigkeit der Schmerzen objektiviert werden.

Insbesondere die Berechnung auf Stufe 1 erfolgt unabhängig von der konkreten Verletzung und den damit individuell einhergehenden Schmerzen. Wie der BGH zutreffend anmerkt, kann nicht ausschließlich auf die Dauer eines Krankenhausaufenthalts und die Frage, auf welcher Station ein Patient behandelt wurde, abgestellt werden. So sind bei der Bestimmung der Lebensbeeinträchtigungen zweier Patienten auch die Arten der Verletzungen zu berücksichtigen. Die Beeinträchtigung eines Patienten mit erlittener Querschnittslähmung und eines Patienten mit Arm- und Rippenfrakturen bei gleicher Aufenthaltsdauer und Stationsart wird kaum identisch sein. Unberücksichtigt bleibt zudem das persönlich empfundene Leid eines Geschädigten, welches auch bei objektiv gleichartigen Verletzungen unterschiedlich ausfallen kann.

Wie schwerwiegend die Beeinträchtigung der Lebensqualität letztlich ausfällt, hängt von einer Vielzahl individueller Gegebenheiten ab. So stellt die Amputation eines Beins für einen Leistungssportler oder der Verlust einer Hand für einen Musiker einen wahrscheinlich noch gravierenderen Lebenseinschnitt dar, da mit der Verletzung auch eine berufliche Neuorientierung einhergeht.

Darüber hinaus verwundert auch die Zugrundelegung eines durchschnittlichen Bruttoeinkommens durch das Berufungsgericht zur Berechnung des „Schmerzes pro Tag“. So lässt dies doch jeglichen Bezug zum konkreten Fall und den konkret empfundenen Schmerzen vermissen. Vielmehr basiert diese Berechnung auf der Annahme, dass es auf die persönliche Beeinträchtigung und das persönliche Empfinden des Geschädigten nicht ankomme, da Schmerzen von allen Menschen gleich empfunden würden. Außerdem ist nicht nachvollziehbar, wieso ein individueller immaterieller Schaden, der mit dem Schmerzensgeld ausgeglichen werden soll, anhand einer objektiven materiellen Rechengröße ermittelt wird.

Das OLG Frankfurt a. M. hat nun über die Höhe eines angemessenen Schmerzensgeldes neu zu entscheiden. Dies nicht mehr schematisch in mehreren Rechenschritten, sondern im Rahmen einer Gesamtbetrachtung des erlittenen Leids.

In dieser Serie

Technology, Media & Communications

AI product liability – moving ahead with a modernised legal regime

Katie Chandler, Philipp Behrendt and Christopher Bakier look at the EU's proposals to legislate for liability risks in AI products.

9. May 2023

von mehreren Autoren

Disputes & Investigations

Vorschlag der Europäischen Kommission für eine neue Richtlinie über die Reparatur von Waren

13. April 2023

von mehreren Autoren

Disputes & Investigations

Vorsicht, Lerngefahr!

Beratung zur Streitvermeidung und Streitlösung

28. March 2023

von Dr. Frank Koch

Disputes & Investigations

BGH: Uneingeschränkte Kontrolle kartellrechtlicher Schiedssprüche

24. January 2023

von mehreren Autoren

Disputes & Investigations

Der Vorschlag der Europäischen Kommission zur Bauproduktenverordnung – Es muss nachgebessert werden!

Hinweis zum Aufsatz von Christine Simon-Wiehl in Zeitschrift für Product Compliance (ZfPC) 05/2022, 198 ff.

13. January 2023

Disputes & Investigations

Gerichtsverhandlung per Videokonferenz soll Standard werden

13. December 2022

Disputes & Investigations

BGH zur Ausländersicherheit nach dem Brexit

9. December 2022

von Peter Bert, lic.oec.int.

Produktsicherheit & Produkthaftung

Entwurf der EU-Kommission für eine neue Produkthaftungsrichtlinie in der EU

Die Europäische Kommission hat am 28. September 2022 neben dem Vorschlag für eine Richtlinie über KI-Haftung ihren mit Spannung erwarteten Entwurf für eine neue Produkthaftungsrichtlinie veröffentlicht. Diese Neuerungen gibt es.

25. November 2022

von David Hilger, LL.M. (Bilbao)

Disputes & Investigations

Moderner streiten!

Experimente beim digitalen Zivilprozess sind schön und gut – doch es fehlt ein System

29. September 2022

von Peter Bert, lic.oec.int.

eCommerce & Marketplaces

eCommerce: Muss ein Händler stets über Herstellergarantien informieren? – EuGH mit klarem „Jein“

Unstrittig: Herstellergarantien können den Abverkauf von Waren erhöhen und zur Kundenbindung beitragen. Aber sind Online-Händler auch verpflichtet, ihre Kunden darüber zu informieren, wenn es solche Garantien gibt?

5. October 2022

von Johannes Raue, Henry Richard Lauf

Disputes & Investigations

Der BGH und die Business Judgement Rule

streiTWert

19. May 2022

von Dr. Dirk Lorenz

Disputes & Investigations

Schmerzensgeld: BGH verwirft die sog. taggenaue Berechnung

streiTWert

5. May 2022

von Florian Lambracht

Disputes & Investigations

EU-Richtlinie über Verbandsklagen: Offene Fragen und Umsetzungsspielräume

streiTWert – Am 24.12.2020 ist die Verbandsklage-Richtlinie in Kraft getreten

18. November 2021

von Matthias Swiderski, LL.M.

Coronavirus

Wenn Corona dazwischenkommt: Wer bleibt auf den Kosten sitzen?

streiTWert – Entscheidung des LG Hamburg über Stornierungskosten bei Veranstaltungen

22. September 2021

von Donata Freiin von Enzberg, LL.M., Kerstin Bär, LL.M. (Bristol, UK)

Disputes & Investigations

BGH: Wie viel Arzthaftung steckt in der Produkthaftung?

streiTWert

9. September 2021

von Florian Lambracht

Disputes & Investigations

BGH – Keine Verwechslungsgefahr bei der Firmenbezeichnung „partners“

streiTWert

23. August 2021

von Kolja Helms

Disputes & Investigations

EuGH: Keine Produkthaftung für falsche Gesundheitstipps in einer Zeitung

streiTWert

13. August 2021

von Dr. Lena Niehoff

Disputes & Investigations

Newsflash – Neues Produktsicherheitsgesetz in Kraft

streiTWert

5. August 2021

Disputes & Investigations

Neues aus Brüssel zu Lugano und Den Haag

streiTWert

28. July 2021

von Peter Bert, lic.oec.int.

Disputes & Investigations

Kommen die „Commercial Courts“ in Deutschland?

streiTWert

28. May 2021

von Jan Andresen

Disputes & Investigations

Die Verpflichtung zur Leistung einer Prozesskostensicherheit nach § 110 ZPO

streiTWert – Ein vielfach unterschätzter Kostenpunkt für im Ausland ansässige Klageparteien?

1. September 2021

von Frank J. Weck, LL.M.

Call To Action Arrow Image

Newsletter-Anmeldung

Wählen Sie aus unserem Angebot Ihre Interessen aus!

Jetzt abonnieren
Jetzt abonnieren