5. Mai 2022
streiTWert – 38 von 63 Insights
Wie berechnet man ein angemessenes Schmerzensgeld? Kann man die infolge eines Unfalls erlittenen Schmerzen anhand von Tagessätzen für die Dauer des Aufenthalts auf einer Intensiv- oder Normalstation eines Krankenhauses hochrechnen? Mit diesen Fragen setzte sich jüngst der BGH auseinander. Denn es entsprach insbesondere der Rechtsprechung des OLG Frankfurt a. M., diese sog. taggenaue Berechnung des Schmerzensgeldes mithilfe von Tagessätzen vorzunehmen. Der BGH (Urt. v. 15. Februar 2022 – VI ZR 937/20) hält dies nicht für interessengerecht, fordert statt einer kleinteiligen Berechnung eine individuelle Gesamtbetrachtung des erlittenen Leids und verwirft damit die taggenaue Berechnung.
Der Kläger wurde bei einem Verkehrsunfall erheblich verletzt und verbrachte infolgedessen über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren insgesamt mehr als 500 Tage im Krankenhaus. Neben zahlreichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen musste letztlich der rechte Unterschenkel amputiert werden. Gerichtlich macht der Kläger u.a. Schmerzensgeldansprüche gegen den Fahrer, Halter und den Haftpflichtversicherer des unfallverursachenden Pkw geltend.
In erster Instanz hat das Landgericht Darmstadt zunächst ein Schmerzensgeld in Höhe von EUR 100.000 zuerkannt. Auf die Berufung des Klägers hin, hat das OLG Frankfurt a. M. das erstinstanzliche Urteil abgeändert und das Schmerzensgeld unter Anwendung der taggenauen Berechnungsmethode auf EUR 200.000 erhöht. Die Beklagten erachteten dies als überhöht und begehrten vor dem BGH die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils hinsichtlich des Schmerzensgeldes.
Die im Berufungsverfahren angewandte taggenaue Berechnung des Schmerzensgeldes folgt drei Rechenschritten:
Der BGH ist der Ansicht, dass die taggenaue Berechnung dem Einzelfall nicht gerecht werde. Der BGH hat die Entscheidung des Berufungsgerichts aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das OLG Frankfurt a. M. zurückverwiesen.
Maßgebend sei für die Schmerzensgeldhöhe „im Wesentlichen die Schwere der Verletzungen, das durch diese bedingte Leid, dessen Dauer, das Ausmaß der Wahrnehmung der Beeinträchtigung durch den Verletzten und der Grad des Verschuldens des Schädigers“. Es sei in erster Linie die Höhe und das Maß der entstandenen Lebensbeeinträchtigung zu berücksichtigen. Die zu ermittelnde einheitliche Entschädigung lasse sich vor diesem Hintergrund „nicht streng rechnerisch ermitteln“.
Es ist dem BGH zuzustimmen, dass die schematische Berechnung der Schmerzensgeldhöhe dem individuellen Fall nicht Genüge tut. Das generelle Abstellen auf die Anzahl der Tage der verschiedenen Behandlungsphasen, ob nun auf einer Intensiv- oder Normalstation eines Krankenhauses, und die Errechnung der dem Geschädigten, basierend auf der voraussichtlichen Lebenserwartung, verbleibenden Tage mit der dauerhaften Lebenseinschränkung, wird dem individuellen Fall und Leid nicht gerecht. Denn Schmerzen und ein daraus folgendes Schmerzensgeld können gerade nicht durch eine Konzentrierung auf die Dauer des Leids und weniger auf die Größe und Heftigkeit der Schmerzen objektiviert werden.
Insbesondere die Berechnung auf Stufe 1 erfolgt unabhängig von der konkreten Verletzung und den damit individuell einhergehenden Schmerzen. Wie der BGH zutreffend anmerkt, kann nicht ausschließlich auf die Dauer eines Krankenhausaufenthalts und die Frage, auf welcher Station ein Patient behandelt wurde, abgestellt werden. So sind bei der Bestimmung der Lebensbeeinträchtigungen zweier Patienten auch die Arten der Verletzungen zu berücksichtigen. Die Beeinträchtigung eines Patienten mit erlittener Querschnittslähmung und eines Patienten mit Arm- und Rippenfrakturen bei gleicher Aufenthaltsdauer und Stationsart wird kaum identisch sein. Unberücksichtigt bleibt zudem das persönlich empfundene Leid eines Geschädigten, welches auch bei objektiv gleichartigen Verletzungen unterschiedlich ausfallen kann.
Wie schwerwiegend die Beeinträchtigung der Lebensqualität letztlich ausfällt, hängt von einer Vielzahl individueller Gegebenheiten ab. So stellt die Amputation eines Beins für einen Leistungssportler oder der Verlust einer Hand für einen Musiker einen wahrscheinlich noch gravierenderen Lebenseinschnitt dar, da mit der Verletzung auch eine berufliche Neuorientierung einhergeht.
Darüber hinaus verwundert auch die Zugrundelegung eines durchschnittlichen Bruttoeinkommens durch das Berufungsgericht zur Berechnung des „Schmerzes pro Tag“. So lässt dies doch jeglichen Bezug zum konkreten Fall und den konkret empfundenen Schmerzen vermissen. Vielmehr basiert diese Berechnung auf der Annahme, dass es auf die persönliche Beeinträchtigung und das persönliche Empfinden des Geschädigten nicht ankomme, da Schmerzen von allen Menschen gleich empfunden würden. Außerdem ist nicht nachvollziehbar, wieso ein individueller immaterieller Schaden, der mit dem Schmerzensgeld ausgeglichen werden soll, anhand einer objektiven materiellen Rechengröße ermittelt wird.
Das OLG Frankfurt a. M. hat nun über die Höhe eines angemessenen Schmerzensgeldes neu zu entscheiden. Dies nicht mehr schematisch in mehreren Rechenschritten, sondern im Rahmen einer Gesamtbetrachtung des erlittenen Leids.
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