20. September 2021
streiTWert – 62 von 61 Insights
Ein kleiner Schritt für die Menschheit, ein großer Schritt für die grenzüberschreitende Beweisaufnahme: Soweit ersichtlich, haben der Präsident des Oberlandesgerichts Düsseldorf und das Rheinland-Pfälzische Justizministerium erstmals eine unmittelbare Beweisaufnahme durch einen Beauftragten („Commissioner“) nach Art. 17 des Haager Beweisübereinkommens von 1970 (HBÜ) per Videolink gestattet. Der OLG-Präsident und das Justizministerium in Mainz handelten dabei als Zentrale Behörde („Central Authority“) nach Art. 2 HBÜ für Nordrhein-Westfalen bzw. Rheinland-Pfalz.
Ein US-amerikanischer District Court hatte sich im März 2021 mit einem Rechtshilfeersuchen an den Präsidenten des Oberlandesgerichts Düsseldorf und das Rheinland-Pfälzische Justizministerium gewandt und beantragt, die Vernehmung von Zeugen mit Wohnsitz in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich durch einen Beauftragten zu gestatten.
Das US-Gericht hatte dazu eine neutrale Beauftragte sowie, für den Fall von deren Verhinderung, eine Vertreterin der Beauftragten bestellt. Bei den neutralen Beauftragten handelte sich durchwegs um deutsche Juristinnen und Juristen. Darüber hinaus hatte das Gericht auch Parteivertreter als weitere Beauftragte bestellt, unter ihnen auch US-amerikanische Anwälte.
Weiter wurde im „Letter of Request“ des US District Courts beantragt, die Beweisaufnahme in englischer Sprache, gegebenenfalls mit Hinzuziehung eines Übersetzers, durchzuführen und den Beauftragten zu gestatten, den Zeugen zu vereidigen. Nach dem Rechtshilfeersuchen sollte die Beweisaufnahme durch einen Stenografen dokumentiert werden und über eine Videokonferenzplattform wie beispielsweise Zoom stattfinden.
Damit wurde eine direkte Beweisaufnahme nach Art. 17 HBÜ beantragt, die in der deutschen Rechtshilfepraxis bislang keine Rolle spielte. Art. 17 HBÜ lautet:
„(1) In Zivil- oder Handelssachen kann jede Person, die zu diesem Zweck ordnungsgemäß zum Beauftragten bestellt worden ist, im Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats ohne Anwendung von Zwang Beweis für ein Verfahren aufnehmen, das vor einem Gericht eines anderen Vertragsstaats anhängig ist,
(2) Jeder Vertragsstaat kann erklären, dass Beweis nach dieser Bestimmung ohne seine vorherige Genehmigung aufgenommen werden darf.“
Die Zentrale Behörde kann nach Art. 19 HBÜ die Genehmigung unter Auflagen erteilen, die sie für zweckmäßig erachtet. Weiter kann sie verlangen, dass ein Vertreter der Behörde an der Beweisaufnahme teilnimmt.
Bei Zeichnung des Abkommens im Jahr 1970 hatte die Bundesrepublik folgende Erklärung zu Art. 17 HBÜ abgegeben:
„A commissioner of the requesting court may not take evidence pursuant to Article 17 of the Convention unless the Central Authority of the Land where the evidence is to be taken has given its permission. Such permission may be made subject to conditions. The local court in whose district official acts would have to be performed by virtue of a Letter of Request in the same matter shall be entitled to control the preparation and the actual taking of the evidence. Under the second sentence of Article 19 of the Convention, a member of the court may be present at the taking of the evidence.“
Das HBÜ hat derzeit 64 Vertragsstaaten. Für die Bundesrepublik Deutschland ist das HBÜ seit 1979 in Kraft. Das HBÜ regelt die Rechtshilfe unter den Vertragsstaaten bei der grenzüberschreitenden Beweisaufnahme in Zivil- und Handelssachen.
Bei der der Vernehmung von Zeugen unterscheidet das HBÜ zwischen der „indirekten“ Beweisaufnahme nach Kapitel I des Abkommens und der direkten Beweisaufnahme nach Kapitel II.
Bei einer indirekten Beweisaufnahme, ist der Zeuge – unbeschadet etwaiger Zeugnisverweigerungsrechte – verpflichtet, vor dem deutschen Rechtshilferichter auszusagen. Die unmittelbare Beweisaufnahme nach Kapitel II ist hingegen nicht erzwingbar. Die Zeugenvernehmung auf diesem Wege setzt daher voraus, dass der Zeuge freiwillig erscheint.
In weitgehend gleichlautenden Entscheidungen haben die beiden deutschen Zentralen Behörden dem Rechtshilfeersuchen im Wesentlichen stattgegeben. Bewilligt wurde die Bestellung einer Commissioner sowie einer Vertreterin für den Fall von deren Verhinderung. Der weitergehende Antrag, auch Parteivertreter zu bestellen, wurde zurückgewiesen:
„Die Bestellung mehrerer Commissioner ist nicht zulässig. Der Commissioner darf zudem keiner Partei zuzurechnen sein und muss eine neutrale Leitung der Beweisaufnahme sicherstellen. Die Bewilligung erstreckt sich daher nur auf die Benennung von X und – für den Fall von deren Verhinderung – Y als Commissioner. Voraussetzung ist jedoch, dass auch Y keiner Partei zuzurechnen ist.“
Die Vernehmung mittels Videokonferenz wurde genehmigt, allerdings mit der Maßgabe, dass sich der deutsche Rechtshilferichter der Videokonferenz in jedem Stadium der Beweisaufnahme zuschalten können müsse, weswegen die Beweisaufnahme vorab mit dem betreffenden Amtsgericht abzustimmen sei:
„Aus diesem Grund ist die Beiziehung eines Dolmetschers auch dann erforderlich, wenn sich der Zeuge bereit erklärt, ohne Dolmetscher vernommen zu werden.“
Auch eine Vereidigung des Zeugen durch die Commissioner wurde genehmigt, ebenso die Aufzeichnung der Vernehmung durch einen Stenographen, nicht jedoch eine Aufzeichnung in Bild und Ton.
Darüber hinaus machten die Zentralen Behörden folgende Auflagen:
„Gegen die Teilnahme der Parteien bzw. ihrer gesetzlichen Vertreter sowie ihrer Anwälte an der Beweisaufnahme bestehen keine Bedenken. Der Commissioner kann diesen auch ein Fragerecht zubilligen, welches jedoch nicht die Grenzen zu einem Kreuzverhör oder einer ausforschenden Beweisaufnahme überschreiten darf. Kreuzverhör und Ausforschungsbeweis sind mit dem deutschen Recht nicht vereinbar und daher auch bei einer unmittelbaren Beweisaufnahme nach Art. 17 HBÜ nicht genehmigungsfähig.“
Die Hague Conference on Private International Law (HCCH) hatte bereits vor der Pandemie mit den Arbeiten an einem umfangreichen „Guide to Good Practice – The Use of Video-Link“ begonnen, der im April 2020 vorgestellt wurde. Dieser „Guide“ wird ergänzt durch einen ausführlichen Länderteil (Stand 2017), aus dem sich die Position der verschiedenen Vertragsstaaten zur Beweisaufnahme per Videotechnologie ergibt. Das HBÜ wurde von der HCCH stets als technologieneutrales Übereinkommen verstanden, das auch für die im Jahre seiner Entstehung 1970 noch nicht absehbare Videotechnologie offen ist.
So wie im nationalen Zivilprozessrecht § 128a ZPO durch die Pandemie zu praktischer Bedeutung gelangt ist, stellt sich auch die Situation im internationalen Prozessrecht dar. Es ist daher sehr zu begrüßen, dass die Zentralen Behörden in Düsseldorf und Mainz die direkte Beweisaufnahme im Wege einer Videoübertragung ermöglicht haben. Das war in der Vergangenheit nicht der Fall; dem Verfasser sind aus der Praxis Rechtshilfeersuchen bekannt, in denen die direkte Beweisaufnahme nicht genehmigt wurde. Weiter fällt positiv auf, dass die Entscheidungen über das Rechtshilfeersuchen innerhalb von etwa zwei Monaten ergingen, und dass sich die betroffenen Behörden offensichtlich untereinander abgestimmt hatten. Es bleibt zu wünschen, dass dieses Beispiel Schule macht.
Die neue Genehmigungspraxis macht es erheblich einfacher, grenzüberschreitende Beweisaufnahmen zu organisieren, da beispielsweise die Beschränkung auf die Verfügbarkeit von Gerichtssälen mit Videotechnologie entfällt.
Auch für Rechtshilfeersuchen deutscher Gerichte können die Genehmigungen aus Düsseldorf und Mainz neue Impulse setzen: Sofern der ersuchte Staat keinen allgemeinen Widerspruch nach Art. 33 HBÜ erklärt hat, kann stets die unmittelbare Vernehmung einer Beweisperson durch Beauftragte beantragt werden.
Das US-Gericht hatte im hier entschiedenen Fall nicht beantragt, selbst an der Vernehmung teilnehmen zu dürfen. Das HBÜ lässt eine Teilnahme des ersuchenden Gerichts mit Zustimmung des ersuchten Staates problemlos zu (siehe Art. 8 HBÜ für die Beweisaufnahme nach Kapitel I). Ein deutsches Gericht, dass es sich selbst einen Eindruck von der Zeugin oder dem Zeugen verschaffen möchte, könnte also im spiegelbildlichen Fall die ausländische Zentrale Behörde um Genehmigung seine Teilnahme im Wege der Videokonferenz ersuchen.
Je nach der Staatenpraxis zu Art. 27 HBÜ, über die der Länderteil Aufschluss gibt, könnte das deutsche Gericht die Beweisaufnahme sogar selbst durchführen, ohne dass die Zwischenschaltung eines Beauftragten erforderlich wäre bzw. sich selbst beauftragen (siehe zum Meinungsstand Windau, JM 2021, 178, 182, insbs. Fn 59).
Sofern sich die Beweisperson in den USA befindet, steht aus deren Sicht einer direkten Beweisaufnahme durch das deutsche Gericht nichts im Wege:
“It is permissible for a voluntary witness located in the United States to directly provide evidence by video-link to a foreign court.” (Seite 5 des Länderteils USA)*
Insbesondere “Commercial Courts” oder Kammern für internationale Handelssachen, die ohnehin in englischer Sprache verhandeln, sollten diese Optionen bei grenzüberschreitenden Beweisaufnahmen in Betracht ziehen.
tl;dr: Die Bestellung eines Commissioner ist nach Art. 17 HBÜ zulässig, sofern dieser keiner Partei zuzurechnen ist und eine neutrale Leitung der Beweisaufnahme sicherstellt. Die Beweisaufnahme darf per Videolink in den ersuchenden Staat übertragen, aber nicht aufgezeichnet werden.
Anmerkung/Besprechung, Genehmigung des Präsidenten des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 25. Mai 2021, Az. 934E1–11.154-21 und des Ministeriums der Justiz Rheinland-Pfalz vom 31. Mai 2021, Az. 9341E21.
Die Grafik zeigt die Mitgliedsstaaten des HBÜ. Grün steht für einen Beitritt in den 1970ern, hellblau für die 1980er, blau für die 1990er, pink für die 2000er, und rot für 2010 ff.: L.tak, Evidence Convention, CC BY-SA 3.0
Diesen und weitere Beiträge von Peter Bert finden Sie ebenfalls unter www.zpoblog.de
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