17. Juli 2024
Digital Health 360° – 8 von 35 Insights
In der Telemedizin-Branche brodelt es: Ein Urteil des Oberlandesgerichts Hamburg hat die Gemüter erhitzt und wirft fundamentale Fragen zur Zukunft digitaler Gesundheitsanwendungen auf. Im Mittelpunkt des Sturms stehen zwei Teledermatologie-Plattformen - OnlineDoctor 24 und Dermanostic – deren rechtliche Auseinandersetzung die Branche in Atem hält. Was auf den ersten Blick wie ein simpler Wettbewerbsstreit erscheint, könnte weitreichende Konsequenzen für die gesamte Telemedizin und den Markt für digitale Gesundheitsanwendungen haben
OnlineDoctor wendet sich gegen das Inverkehrbringen der App für digitale Hautchecks von Dermanostic. Die App ermöglicht es Patienten, Bilder von Hautleiden an von Dermanostic ausgewählte Hautärzte zu senden, einen Anamnese-Fragebogen auszufüllen und personenbezogene Daten anzugeben. Der Anamnese-Fragebogen wird dabei automatisch je nach Patientendaten (z.B. Geschlecht) und -anliegen (z.B. Frage nach beruflicher Tätigkeit bei Hautausschlag) verändert. Auf dieser Basis erhalten Patienten eine asynchrone ärztliche Diagnose sowie ggf. Behandlungsvorschläge und Rezepte. Die App ist als CE-gekennzeichnetes Medizinprodukt der Risikoklasse I gemäß Regel 11 der Medizinprodukte-VO (EU) 2017/745 deklariert.
Die hier einschlägige Klassifizierungsregel 11 lautet:
„Software, die dazu bestimmt ist, Informationen zu liefern, die zu Entscheidungen für diagnostische oder therapeutische Zwecke herangezogen werden, gehört zur Klasse IIa, es sei denn, diese Entscheidungen haben Auswirkungen, die Folgendes verursachen können: [...].
Sämtliche andere Software wird der Klasse I zugeordnet.“
OnlineDoctor argumentiert, dass die App gemäß Anhang VIII, Regel 11 der Medizinprodukte-VO in die Klasse IIa oder höher einzustufen sei – und betont dabei, dass die Software dem Arzt zielgerichtet gesammelte und gespeicherte Informationen liefere, die für diagnostische oder therapeutische Entscheidungen herangezogen würden und in den meisten Fällen die einzige Grundlage der ärztlichen Diagnose darstellten.
Dermanostic vertritt hingegen die Auffassung, dass Regel 11 verlange, dass die Software über die reine Datenübermittlung hinaus einen eigenen Beitrag zur Diagnose liefere – und ist der Auffassung, dass bei einer reinen Datenübermittlungs- und Kommunikationslösung kein Patientenrisiko entstehe, das eine höhere Klassifizierung rechtfertige.
Hierbei ist ergänzend klarzustellen, dass – im Gegensatz zur Risikoklasse I – bei höheren Risikoklassen für das Konformitätsbewertungsverfahren eine Benannte Stelle einzubeziehen ist. Das bedeutet zum einen eine längere Bearbeitungsdauer (ca. zwei Jahre), zum anderen aber auch ein insgesamt aufwendigeres Verfahren (beispielsweise eine ISO-Zertifizierung nach ISO 13485). Dieses Verfahren verursacht wiederum neben dem zeitlichen Versatz entsprechende Mehrkosten.
Das OLG Hamburg gab OnlineDoctor recht und verbot Dermanostic, die App in den Verkehr zu bringen, solange sie nicht als Medizinprodukt der Klasse IIa, IIb oder III nach Anhang VIII, Regel 11 der Verordnung (EU) 2017/745 zertifiziert ist.
Das Gericht folgt der Argumentation von OnlineDoctor und legt Regel 11 des Anhangs VIII der Medizinprodukte-VO weit aus. Es stellt fest, dass die App nicht nur Daten übermittelt, sondern auch Einfluss auf den Anamneseinhalt nimmt, indem sie aufgrund einer vorgegebenen Programmierung entscheidet, welche Fragen einem Patienten gestellt werden. Dies geschehe unabhängig von einer ärztlichen Entscheidung im Einzelfall. Die Logik der Software greife damit in den Diagnoseprozess ein und beeinflusse ihn.
Das Gericht betont, dass die Software selbständig agiere und durch die Auswahl der Fragen die Grundlage für die ärztliche Diagnose und Therapieentscheidung beeinflusse. Entscheidend sei hingegen nicht, dass die Software selbst die Diagnosen stellt, andernfalls wäre sie bereits nach Regel 10 zu klassifizieren (aktive Produkte zu Diagnosezwecken). Es sieht darin eine über die reine Datenübermittlung hinausgehende Funktion, die eine Einstufung in eine höhere Risikoklasse rechtfertige. Auch den Zweck der Verordnung, nämlich den Schutz der Patienten zieht das Gericht heran und argumentiert, dass gerade bei der Ferndiagnose ohne persönlichen Arztkontakt ein erhöhtes Risiko bestehe, welches eine strengere Regulierung erfordere.
Zusammenfassend urteilt das Gericht, dass die App aufgrund ihrer Funktionsweise und ihres Einflusses auf den diagnostischen Prozess als Medizinprodukt der Klasse IIa oder höher zu klassifizieren ist und daher einer entsprechenden Zertifizierung bedarf.
Das Urteil verdeutlicht die komplexe rechtliche Situation bei der Klassifizierung von medizinischen Software-Anwendungen. Betont sei hierbei, dass hierzu auch die GKV-finanzierten digitale Gesundheitsanwendungen (sog „DiGA“) gehören. Auch hier finden sich asynchrone Apps, die teilweise lediglich nach Risikoklasse I CE-zertifiziert sind. Entsprechend kann das vorgenannte Urteil auch für bereits zugelassene DiGA Auswirkungen haben.
Unternehmen, die solche Produkte entwickeln oder vertreiben möchten, sollten folgende Punkte besonders beachten:
Eine frühzeitige und gründliche rechtliche Prüfung kann helfen, kostspielige Fehlentscheidungen zu vermeiden und die Compliance des Unternehmens sicherzustellen.
8. May 2025
8. May 2025
3. April 2025
von mehreren Autoren
27. February 2025
12. February 2025
von mehreren Autoren
22. October 2024
von mehreren Autoren
17. July 2024
von Kathleen Munstermann-Senff, LL.M. (Medizinrecht), Dr. Marina Schulte
12. April 2024
von Karolina Lange-Kulmann, LL.M. (Medizinrecht), Rica Nauschütte
27. March 2024
13. March 2024
21. September 2023
von Dr. Tim Schwarz
10. July 2023
14. March 2023
12. September 2022
12. September 2022
22. July 2022
12. April 2022
30. March 2022
4. March 2022
von Karolina Lange-Kulmann, LL.M. (Medizinrecht), Dr. Niclas von Woedtke, MBA (Kellogg/ WHU)
Gründe des Urteils des Bundesgerichtshofs vom 9. Dezember 2021 veröffentlicht
15. February 2022
Strategie zur digitalen Potentialentfaltung des Gesundheitswesens der Zukunft
7. July 2021
29. April 2021
von mehreren Autoren
„Best Practices” für das Vertragsmanagement ab Tag 1
22. April 2021
von mehreren Autoren
von mehreren Autoren
21. October 2020
von Karolina Lange-Kulmann, LL.M. (Medizinrecht), Dr. Niclas von Woedtke, MBA (Kellogg/ WHU)