15. Februar 2022
Digital Health 360° – 22 von 29 Insights
Die Entscheidungsgründe zum Urteil des I. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs vom 9. Dezember 2021 (Az.: I ZR 146/20) in Bezug auf die Werbung für ärztliche Fernbehandlung wurden nunmehr veröffentlicht. Diese beleuchten die immer wichtiger werdende Thematik der ärztlichen Fernbehandlung nochmals tiefergehend und geben Aufschluss über die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Werbung.
Der Bundesgerichtshof sieht in der Werbung einer privaten Krankenversicherung für eine Fernbehandlung bei in der Schweiz ansässigen Ärzten einen Verstoß gegen § 9 S. 1 HWG, da die Beklagte für die Erkennung und Behandlung von Krankheiten geworben habe, die nicht auf eigener Wahrnehmung des Patienten beruht. In der Entscheidung geht es vordergründig um die Auslegung des § 9 S. 2 HWG und welche Regeln hierbei heranzuziehen sind.
In dem Urteil betont der Bundesgerichtshof, dass es Zweck der im Heilmittelwerbegesetz geregelten Werbeverbote ist, Gefahren entgegenzutreten, die der Gesundheit des Einzelnen und den Gesundheitsinteressen der Allgemeinheit durch unsachgemäße Medikation unabhängig davon drohen, ob sie im Einzelfall tatsächlich eintreten. Die Gesundheit kann insbesondere dann in Gefahr sein, wenn Personen, die nicht an berufsrechtliche Regelungen gebunden sind, Fernbehandlungen bewerben. Insoweit komme es für das Werbeverbot auch nicht auf die berufsrechtliche Zulässigkeit oder Unzulässigkeit der Fernbehandlung an.
Der Ausnahmetatbestand des § 9 S. 2 HWG, der die Werbung für Fernbehandlungen zulässt, wenn nach allgemein anerkannten fachlichen Standards ein persönlicher ärztlicher Kontakt mit dem Patienten nicht erforderlich ist, greife im vorliegenden Fall nicht. Entscheidend sei hierbei die Auslegung des Begriffs des allgemein anerkannten fachlichen Standards. Der Gesetzgeber habe mit der Schaffung des Ausnahmetatbestands gemäß § 9 Satz 2 HWG der Weiterentwicklung telemedizinischer Möglichkeiten Rechnung tragen wollen und sei von der Einhaltung anerkannter fachlicher Standards bereits dann ausgegangen, wenn danach eine ordnungsgemäße Behandlung und Beratung unter Einsatz von Kommunikationsmedien grundsätzlich möglich ist. Laut Bundesgerichtshof ist der Gesetzgeber von einem dynamischen Prozess ausgegangen, in dem sich mit dem Fortschritt der technischen Möglichkeiten auch der anerkannte fachliche Standard ändern kann.
Der Begriff des allgemein anerkannten fachlichen Standards soll unter Rückgriff auf den Begriff in
§ 630a Abs. 2 BGB und den dazu entwickelten Grundsätzen ausgelegt werden. Insoweit stellt der Bundesgerichtshof in seinem Urteil fest:
„Für eine solche Auslegung des § 9 Satz 2 HWG spricht nicht nur, dass der Wortlaut des § 630a Abs. 2 BGB gleichfalls auf den Begriff der allgemein anerkannten fachlichen Standards abstellt. Auch unter systematischen und teleologischen Gesichtspunkten erscheint es sachgerecht, den für die pflichtgemäße Erfüllung der dem Arzt aus dem Behandlungsvertrag erwachsenden Pflichten maßgeblichen Begriff auch für die Frage fruchtbar zu machen, ob diese Pflichten eine Fernbehandlung zulassen und deshalb für eine Fernbehandlung geworben werden darf. Zudem ermöglicht ein solcher Gleichklang bei der Auslegung den Rückgriff auf die umfangreiche Rechtsprechung zu § 630a Abs. 2 BGB und dient damit der vorhersehbaren und rechtssicheren Anwendung des Erlaubnistatbestands gemäß § 9 Satz 2 HWG.“
Der Annahme des Berufungsgerichts, bei ärztlichen Beratungen und Behandlungen im persönlichen Kontakt zwischen Arzt und Patient in physischer Präsenz sei von einem „Goldstandard“ ärztlichen Handelns auszugehen und demgegenüber bei ausschließlicher Fernbehandlung von einer Vernachlässigung der Befunderhebungspflicht zu sprechen, da immer eine Basisuntersuchung erforderlich sei, hat der Bundesgerichtshof eine Absage erteilt. Eine Werbung für eine Fernbehandlung könne vielmehr bei entsprechender Einhaltung des anerkannten fachlichen Standards zulässig sein. Entscheidend sei der Begriff des anerkannten fachlichen Standards, der sich fortlaufend ändert. Da bezüglich § 9 S. 2 HWG noch kein anerkannter fachlicher Standard entwickelt worden sei, müsse auf § 630 a Absatz 2 BGB abgestellt werden:
„Danach gibt ein fachlicher Standard Auskunft darüber, welches Verhalten von einem gewissenhaften und aufmerksamen Arzt in der konkreten Behandlungssituation aus der berufsfachlichen Sicht seines Fachbereichs im Zeitpunkt der Behandlung erwartet werden kann. Er repräsentiert den jeweiligen Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und der ärztlichen Erfahrung, der zur Erreichung des ärztlichen Behandlungsziels erforderlich ist und sich in der Erprobung bewährt hat. Bei der Bestimmung des anerkannten fachlichen Standards sind die Leitlinien medizinischer Fachgesellschaften und die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses gemäß §§ 92, 136 SGB V zu berücksichtigen. Weiterhin können sich fachliche Standards auch unabhängig davon bilden. Die Ermittlung des jeweils maßgeblichen Standards ist grundsätzlich Sache des Tatgerichts, das gegebenenfalls einen Sachverständigen hinzuzuziehen hat.“
Eine Werbung für eine Fernbehandlung verstößt mithin nicht gegen § 9 HWG, wenn der anerkannte fachliche Standard eingehalten wird, der im Übrigen einer ständigen Entwicklung unterliegt. Damit hat der Bundesgerichtshof das Tor zur weiteren Digitalisierung des Gesundheitswesens und den damit verbundenen Möglichkeiten der Fernbehandlung weit aufgestoßen. Es ist davon auszugehen, dass sich im Laufe der Zeit immer mehr anerkannte fachliche Standards herausbilden und entsprechende Werbemöglichkeiten eröffnen werden.
Autoren: Dr. Daniel Tietjen und Katharina Hölle
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