Sowohl das Kartellrecht als auch der Umweltschutz gehören zum EU-Primärrecht. Bei erster, oberflächlicher Betrachtung scheinen diese Rechtsgebiete unterschiedliche, vielleicht sogar widersprüchliche Ziele zu verfolgen. Bei genauer Betrachtung jedoch sind freier und fairer Wettbewerb mit Umweltschutz und der Verringerung von CO2-Emissionen gut vereinbar.
Während Art. 101 und Art. 102 AEUV den Schutz des Wettbewerbs vor Wettbewerbsbeschränkungen und missbräuchlichen Ausnutzungen marktbeherrschender Stellungen vorsehen, definiert Art. 3 Abs. 3 EUV den Umweltschutz als eines der Kernziele der Europäischen Union. Art. 11 AEUV legt zudem fest, dass die Erfordernisse des Umweltschutzes „bei der Festlegung und Durchführung der Unionspolitiken und -maßnahmen insbesondere zur Förderung einer nachhaltigen Entwicklung einbezogen werden“ müssen. Die europäischen Verträge sehen demnach vor, dass Umweltschutz und Nachhaltigkeit die Gesamtheit der Unionspolitiken prägen und durchdringen sollen, einschließlich der Wettbewerbspolitik.
Auf politischer Ebene hat Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den europäischen Green New Deal zum zentralen politischen Ziel ihrer Kommissionpräsidentschaft erklärt.
Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager kündigte in einer Rede vom 22. September 2020 an, dass auch die Wettbewerbspolitik den wichtigen Beitrag, den sie bei der Umsetzung des Green New Deal zu leisten hat, nicht ignorieren darf. Zudem hat die Europäische Kommission jüngst eine öffentliche Konsultation abgeschlossen, um Ideen und Vorschläge dazu zu sammeln, wie das Kartellrecht künftig zur Erreichung der Ziele des Green New Deal konkret beitragen könnte. Die eingereichten Stellungnahmen sind auf der Website der Kommission abrufbar.
Die neue Tendenz der Kommission, der Nachhaltigkeit in der Kartellrechtsanwendung eine wichtige Rolle einzuräumen, stellt einen bedeutenden wettbewerbspolitischen Kurswechsel und Wendepunkt dar. Es scheint die dringende Notwendigkeit zu sein, angesichts der sich verschärfenden Klimakrise entschieden zu handeln, die dazu führt, dass Umweltschutz und Nachhaltigkeit nun als in der Kartellrechtsanwendung zu berücksichtigende Ziele (wieder-)entdeckt werden.
Im Verlauf der sogenannten Modernisierung des europäischen Kartellrechts in den 1990er Jahren und zu Beginn der 2000er Jahre hatte die Kommission den sogenannten More Economic Approach verfolgt und die Maximierung der Verbraucherwohlfahrt zum obersten Ziel des europäischen Kartellrechts erklärt. Vor diesem Hintergrund könnte der aktuelle wettbewerbspolitische Wandel weitreichende Folgen für die Entscheidungspraxis sowohl von Kommission als auch von nationalen Wettbewerbsbehörden mit sich bringen.
Horizontale Kooperationen von Unternehmen, die auf die Verbesserung der Nachhaltigkeit im jeweiligen wirtschaftlichen Sektor gerichtet sind, können unter bestimmten Umständen schon nicht in den Anwendungsbereich des Kartellverbots des Art. 101 Abs. 1 AEUV fallen. Grundlage hierfür ist die sogenannte Immanenztheorie (im EU-Recht auch als ancillary restraints doctrine bezeichnet). Nach der Immanenztheorie unterliegen Wettbewerbsbeschränkungen, die strikt notwendig sind, um einen kartellrechtsneutralen Hauptzweck zu verwirklichen, nicht dem Kartellverbot, solange sie nicht über das für diese Zweckerreichung erforderliche Maß hinausgehen. Der EuGH nahm in den früheren Entscheidungen Meca-Medina (EuGH, 18.07. 2006, C-519/04 P) und Wouters (EuGH, 19.02. 2002, C-519/04 P) an, dass dieser kartellrechtlich neutrale Hauptzweck sich nicht zwingend auf wettbewerbliche Aspekte beschränken muss. So bezog sich der kartellrechtsneutrale Hauptzweck in Meca-Medina etwa auf Anti-Doping-Regeln im Profisport und in Wouters auf anwaltliches Berufsrecht.
Alternativ könnten Rechtsprechung und Wettbewerbsbehörden ihre Auslegung des Art. 101 Abs. 3 AEUV anpassen. Nach Art. 101 Abs. 3 AEUV sind Wettbewerbsbeschränkungen dann vom Kartellverbot ausgenommen, wenn diese (1) unter angemessener Beteiligung der Verbraucher an dem entstehenden Gewinn (2) zur Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts beitragen (sogenannte Effizienzgewinne), (3) ohne dass den beteiligten Unternehmen dabei Beschränkungen auferlegt werden, die für die Verwirklichung dieser Ziele nicht unerlässlich sind, und (4) ohne dass ihnen Möglichkeiten eröffnet werden, für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren den Wettbewerb auszuschalten.
Jedoch vertritt die Europäische Kommission bislang eine enge Auslegung der Freistellung in Art. 101 Abs. 3 AEUV. Sie verlangt, dass die Effizienzgewinne auf demselben Markt wie die Wettbewerbsbeschränkungen eintreten müssen. Außerdem muss der Wert zukünftiger Effizienzgewinne diskontiert werden, sodass langfristig eintretenden Effizienzen kaum berücksichtigt werden können (vgl. Bekanntmachung der Kommission, Leitlinien zur Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag, ABlEU 2004 C 101/08, Rn. 43 und Rn. 87-88).
Unserer Auffassung nach sollten Rechtsprechung und Wettbewerbsbehörden jedoch die in Art. 101 Abs. 3 AEUV normierte Freistellung vom Kartellverbot zumindest bezüglich der Reduktion von CO2-Emissionen als überragendem Ziel des öffentlichen Interesses weiter auslegen. Es sollte geprüft werden, ob eine Vereinbarung eine positive Wirkung auf die Umwelt hat, auch über einen längeren Zeitraum hinweg betrachtet. Diese (soweit möglich) zu quantifizierenden umweltschützenden Wirkungen müssen etwaige wettbewerbsbeschränkende Wirkungen überwiegen. Dabei sollten Rechtsprechung und Wettbewerbsbehörden die positiven Auswirkungen des Umweltschutzes auf die gesamte Wirtschaft (und Gesellschaft) berücksichtigen.
Treibhausgase bilden quantifizierbare negative externe Effekte, die (noch) nicht angemessen durch den Emissionshandel ausgeglichen werden. Daher würden tatsächlich umweltschützende Kooperationen diese aktuell von der gesamten Wirtschaft und Gesellschaft getragenen und quantifizierbaren Kosten reduzieren und somit einen von Art. 101 Abs. 3 AEUV geforderten Effizienzgewinn bewirken, der allerdings auch die wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen überwiegen muss.
Zusätzlich zu diesem allgemeinen sozioökonomischen Gewinn können umweltschützende Kooperationsvereinbarungen auch konkrete Vorteile für die Verbraucher bewirken. Die CECED Entscheidung der Kommission (Entscheidung der Kommission vom 24. Januar 1999, IV.F.1/36.718 – CECED) zeigt auf, wie Verbraucher direkt von den reduzierten Stromkosten profierten konnten, die dadurch entstanden, dass Hersteller vereinbarten, die Produktion und den Import von Waschmaschinen mit hohem Energieverbrauch einzustellen.
In der Beurteilung der Fairtrade Initiative, die sich allerdings nicht auf die Reduktion von CO2-Emissionen richtet, wählte das Bundeskartellamt jedoch einen anderen Ansatz im Umgang mit Nachhaltigkeitszielen (vgl.). Das Bundeskartellamt traf die Ermessensentscheidung, die horizontale Kooperation von Unternehmen, die darauf abzielt, Standards der Nachhaltigkeit in der Produktion zu verbessern, nicht kartellrechtlich zu verfolgen. Jedoch wäre es unserer Auffassung nach vorzuziehen, solche Ausnahmen auf einen konkret quantifizierten Effizienzzuwachs oder auf die Immanenztheorie zu stützen.
Die Berücksichtigung von Umweltschutzzielen im Kartellrecht ist schließlich nicht auf das Kartellverbot beschränkt. Umweltschutzziele können auch beim Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung durch Unternehmen berücksichtigt werden. Die deutsche Rechtsprechung entscheidet auf Grundlage einer umfassenden Interessenabwägung, ob ein bestimmtes Verhalten einen Missbrauch darstellt. Im Rahmen dieser umfassenden Interessenabwägung können auch Umweltschutz- und Nachhaltigkeitsüberlegungen miteinfließen.
Auch im Rahmen der Fusionskontrolle könnten verringerte CO2-Emissionen als wettbewerbsfördernde Effizienzgewinne berücksichtigt werden.
Im deutschen Kartellrecht bildet die Ministererlaubnis eine weitere Möglichkeit, Umweltschutzziele in die Fusionskontrolle miteinzubeziehen. Erst im August 2019 gewährte der Bundesminister für Energie und Wirtschaft, Peter Altmaier, dem vom Bundeskartellamt untersagten Zusammenschluss Miba/Zollern eine Ministererlaubnis. Grund hierfür war u.a. die durch das künftige Gemeinschaftsunternehmen im Bereich Gleitlager angeblich bewirkte Reduzierung von CO2-Emissionen.
Es bleibt abzuwarten, welchen Weg genau die Kommission, aber auch die nationalen Wettbewerbsbehörden einschlagen werden, um die Zukunft des Kartellrechts „grüner“ zu gestalten. Es scheint jedoch einen breiten Konsens darüber zu geben, dass die Verringerung von CO2-Emissionen bei der Anwendung des Kartellrechts, auf welche Weise auch immer, berücksichtigt werden muss.