19. Dezember 2023
Am 14. Dezember 2023 wurde das Gesetz zur Finanzierung von zukunftssichernden Investitionen (Zukunftsfinanzierungsgesetz; „ZuFinG“) im Bundesgesetzblatt verkündet (BGBl. I Nr. 354). Das ZuFinG ändert 34 Gesetze und Verordnungen. Die meisten Änderungen, einschließlich der nachstehend erläuterten Änderung des Aktiengesetzes, traten am Tag nach der Gesetzesverkündung in Kraft. Die gesellschafts-, kapitalmarkt- und steuerrechtlichen Neuerungen sollen den Finanzplatz Deutschland und die Aktienkultur in Deutschland stärken, kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) leichter Zugang zum Kapitalmarkt ermöglichen und die Aufnahme von Eigenkapital vereinfachen.
An gesellschafts- und kapitalmarktrechtlichen Neuerungen sieht das Gesetz insbesondere die Einführung von Mehrstimmrechtsaktien, die Erleichterung von Börsenzulassungen und Kapitalerhöhungen, die Einführung von sog. Börsenmantelgesellschaften (SPACs) sowie die Einführung von elektronischen Aktien vor (vgl. hierzu auch die von uns veröffentlichten Beiträge zu den einzelnen Maßnahmen des Regierungsentwurfs vom 16. August 2023 Zukunftsfinanzierungsgesetz – Entwurf der Bundesregierung vom 16. August 2023 sowie zu SPACs Kommen jetzt die deutschen SPACs? und zur Einführung der elektronischen Aktie Welche Vorteile bringt die E-Aktie.
Ein Schwerpunkt der aktienrechtlichen Neuregelungen liegt in der Zulassung von Mehrstimmrechtsaktien, d.h. Aktien, die mehr Stimmen gewähren, als es ihrem Anteil am Grundkapital entspricht. Es kommt also zur Abkehr von dem seit dem Jahr 1998 geltenden Kapital- bzw. Proportionalitätsprinzip und vom Grundsatz „one share - one vote“. Künftig sollen Gesellschaften in der Rechtsform der AG, der SE sowie der KGaA Namensaktien mit Mehrstimmrechten ausstatten können. Der nationale Gesetzgeber kommt damit den europäischen Plänen zu einer Mindestharmonisierung von Mehrstimmrechten und einer Richtlinie des europäischen Parlaments und des Rates über Strukturen mit Mehrstimmrechtsaktien in Gesellschaften, die eine Zulassung ihrer Aktien zum Handel an einem KMU Wachstumsmarkt beantragen (siehe hierzu den Vorschlag der EU-Kommission vom 7. Dezember 2022, COM (2022) 761) zuvor.
Die gesetzlichen Voraussetzungen für Mehrstimmrechtsaktien sind im neuen § 135a AktG geregelt. Mehrstimmrechte sind auf Namensaktien beschränkt und dürfen höchstens das Zehnfache des Stimmrechts je Aktiennennbetrag bzw. der Aktienstückzahl betragen. Ein Beschluss der Hauptversammlung zur Ausstattung oder Ausgabe von Aktien mit Mehrstimmrechten bedarf der Zustimmung aller betroffenen Aktionäre. Gesetzlich nicht begrenzt ist das Verhältnis von Mehrstimmrechtsaktien im Verhältnis zu den übrigen Aktien. So könnten zum Beispiel 90 % des anteiligen Grundkapitals auf Mehrstimmrechtsaktien entfallen. Mehrstimmrechte lassen das Erfordernis qualifizierter Kapitalmehrheiten bei wesentlichen Beschlussgegenständen unberührt und gelten nicht bei bestimmten Beschlussgegenständen (siehe im Einzelnen weiter unten).
Die gesetzliche Einführung von Mehrstimmrechtsaktien soll den Börsengang in Deutschland und die Eigenkapitalbeschaffung über den Kapitalmarkt insbesondere für Wachstumsunternehmen und Start-ups attraktiver machen. Nach der Gesetzesbegründung scheuen derzeit insbesondere Unternehmen mit innovativen Geschäftsmodellen einen Börsengang in Deutschland, da die Gründer und Ideengeber damit Einfluss und Kontrolle über die strategische Ausrichtung des Unternehmens aufgeben müssten. Es stelle einen Wettbewerbs- und Standortnachteil für Deutschland dar, dass Mehrstimmrechte in Deutschland bislang ausgeschlossen seien (so bislang § 12 Abs. 2 AktG a.F.), während sie in zahlreichen ausländischen Rechtsordnungen zulässig seien. Dies führe dazu, dass Wachstumsunternehmen entweder Investitionskapital und damit Innovations- und Wachstumschancen fehlten oder der Weg über ausländische Rechtsformen bzw. ausländische Börsennotierungen gewählt werde. Durch Mehrstimmrechtsaktien sollen Gründer und Ideengeber künftig in die Lage versetzt werden, auch nach einer erheblichen Eigenkapitalaufnahme die strategische Kontrolle über das Unternehmen zu behalten und es mit langfristiger Perspektive zu führen.
Das ZuFinG ermöglicht den Unternehmen eine weitgehend flexible Ausgestaltung der neuen Mehrstimmrechtsaktien. So können Namensaktien sowohl bei der Gründung als auch bei bereits bestehenden Gesellschaften mit Mehrstimmrechten ausgestattet werden. Zum Schutz der Minderheitsaktionäre bedarf die Schaffung von Mehrstimmrechtsaktien jedoch der Zustimmung aller Aktionäre (mit Ausnahme derjenigen, die nur Vorzugsaktien halten). Im Falle des Formwechsels einer GmbH ergibt sich dieses Einstimmigkeitserfordernis aus § 241 Abs. 2 i.V.m. § 50 Abs. 2 UmwG. Faktisch führt dies dazu, dass die Einführung von Mehrstimmrechtsaktien nur vor einem Börsengang möglich sein dürfte, da nach einem Listing die Zustimmung aller Aktionäre kaum noch zu erzielen ist. Um eine gewisse Proportionalität zwischen wirtschaftlicher Risikotragung und Einflussmöglichkeit zu gewährleisten, dürfen Mehrstimmrechtsaktien höchstens das Zehnfache des Stimmrechts einer einfachen Stammaktie vermitteln. Die Gesellschaften können jedoch innerhalb dieser Grenze von 1:10 mehrere Gattungen von Mehrstimmrechtsaktien mit unterschiedlicher Stimmrechtshöhe schaffen (Multi-Class-Shares).
Mehrstimmrechtsaktien können für Unternehmen ein interessantes Instrument sein, um Stimmrechtsmacht und Kontrolle bei den Gründern oder dem Management zu belassen, insbesondere in den ersten Jahren nach einem Börsengang. Auch für Unternehmen, die keinen Börsengang planen, kann die Gewährung von Mehrstimmrechten erwägenswert sein. Die Einführung ist jedoch im Hinblick auf die damit einhergehende Schwächung der Aktionärskontrolle und das Auseinanderfallen von wirtschaftlicher Beteiligung und Einflussnahme nicht ohne Risiken und sollte mit Augenmaß, angepasst an die individuellen Belange jeder Gesellschaft und ihrer Aktionärsstruktur, erfolgen. Andernfalls kann es zu einem erheblichen Bewertungsabschlag der Aktien am Kapitalmarkt oder zur Abschreckung von Investoren kommen. Aber auch die bisher bestehenden Gestaltungsmöglichkeiten, wie z.B. die Schaffung einer KGaA-Struktur oder die Ausgabe von Vorzugsaktien, können Lösungen zum Kontrollerhalt sein. Ob die Mehrstimmrechte oder die Neuerungen durch das ZuFinG ausreichen, um tatsächlich mehr Börsengänge nach Deutschland zu verlagern, ist allerdings fraglich, da die Beweggründe für Börsengänge facettenreich und konjunkturabhängig sind, weitere politische Rahmenbedingungen eine maßgebliche Rolle spielen und das strenge Korsett des deutschen Aktienrechts grundsätzlich bestehen bleibt. Nicht zuletzt sind auch im Hinblick auf verschiedene kapitalmarktrechtliche Zurechnungsvorschriften bestimmte Anwendungsschwierigkeiten erkennbar, die eine gewisse Zurückhaltung in der Praxis erwarten lassen.
Neben den genannten wesentlichen aktienrechtlichen Neuerungen, die das ZuFinG mit sich bringt, können auch unscheinbar wirkende gesetzliche Anpassungen Handlungsbedarf für Unternehmen auslösen. So wird bei zahlreichen Gesellschaften, die Inhaberaktien ausgegeben haben, in der nächsten Hauptversammlung eine Satzungsänderung erforderlich sein.
Grund hierfür ist die Anpassung des Wortlauts zum Nachweisstichtag (Record Date) in § 123 Abs. 4 Satz 2 AktG an die EU-Durchführungsverordnung (EU) 2018/2012. Mit dem ZuFinG wird der bisher auf den Beginn des 21. Tages vor der Hauptversammlung festgelegte Nachweisstichtag für Inhaberaktien auf den Geschäftsschluss des 22. Tages vor der Hauptversammlung vorverlagert. Zwar ist mit der Änderung keine inhaltliche Neuerung verbunden, da ausweislich der Gesetzesbegründung mit dem „Geschäftsschluss“ des 22. Tages das Ende des 22. Tages gemeint ist, also faktisch derselbe Zeitpunkt wie der Beginn des 21 Tages. Dennoch sollten Satzungen, die ausdrücklich auf den „Beginn des 21. Tages vor der Hauptversammlung“ abstellen, im Rahmen der nächsten Hauptversammlung an den neuen Gesetzeswortlaut angepasst werden. Ungeachtet dessen ist bereits bei der Einberufung künftiger Hauptversammlungen entsprechend der bereits etablierten Praxis zur Anwendung von Tabelle 3 des Anhangs der Durchführungsverordnung (EU) 2018/1212 auf den Geschäftsschluss des 22. Tages vor der Hauptversammlung als Nachweisstichtag abzustellen ist - auch wenn die Satzung noch auf den Beginn des 21. Tages abstellt. Geltendes Gesetzesrecht geht dem insoweit überholten Satzungswortlaut vor.
von Tobias Kraut