31. Mai 2022
Im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zur dauerhaften Einführung der virtuellen Hauptversammlung nach Auslaufen der bis zum 31. August 2022 zeitlich befristeten COVID19-Gesetzgebung hat das Bundesministerium der Justiz am 27. April 2022 den vom Bundeskabinett beschlossenen Regierungsentwurf des Gesetzes zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften („Regierungsentwurf“) veröffentlicht. Der Regierungsentwurf wurde in erster Lesung im Bundestag am 12. Mai 2022 beraten. Eine Stellungnahme des Bundesrats steht noch aus.
Als Ziel des Gesetzes wird im Regierungsentwurf die optionale Verstetigung des virtuellen Formats der Hauptversammlung angeführt unter gleichzeitiger Stärkung der Rechte der Aktionäre. Nachdem vielfach eine unverhältnismäßige Einschränkung von Aktionärsrechten kritisiert wurde, sollen sich nunmehr Ablauf der Versammlung und die Wahrnehmung von Aktionärsrechten im virtuellen Format möglichst nah an den Prozessen der Präsenzveranstaltung anlehnen. Zugleich weist der Regierungsentwurf an verschiedenen Stellen Abweichungen von dem hier dargestellten Referentenentwurf vom 9. Februar 2022 („Referentenentwurf“) auf. Der Beitrag soll die wesentlichen Eckpunkte und insbesondere Neuerungen des Regierungsentwurfs beleuchten und bewerten.
Wie bereits im Referentenentwurf vorgesehen, setzt die Durchführung einer virtuellen Hauptversammlung eine Satzungsgrundlage voraus, die den Vorstand ermächtigt, mit Zustimmung des Aufsichtsrats eine virtuelle Hauptversammlung einzuberufen. Die Ermächtigung soll jeweils auf fünf Jahre begrenzt sein. Überdies soll die Satzung – und das ist neu im Regierungsentwurf – die Tagesordnung einer virtuellen Hauptversammlung dergestalt beschränken dürfen, dass bestimmte Beschlussgegenstände nicht in einer virtuellen Hauptversammlung behandelt werden dürfen (§ 118a Abs. 1 Satz 2 AktG-E). Hintergrund sind ersichtlich die verschiedenen Klagen gegen im Rahmen einer virtuellen Hauptversammlung beschlossenen Strukturmaßnahmen. So verweist die Begründung beispielhaft auf Beschlüsse nach § 327a Absatz 1 Satz 1 AktG (sogenanntes Squeeze-out) oder nach dem UmwG und hebt die zusätzliche Flexibilität des Regierungsentwurfs an dieser Stelle hervor. Auf der anderen Seite droht aber die virtuelle Hauptversammlung zu einer Hauptversammlung „zweiter Klasse“ zu werden.
Für Hauptversammlungen, die bis einschließlich 31. August 2023 einberufen werden, kann der Vorstand nach einer Bestimmung im EGAktG mit Zustimmung des Aufsichtsrats entscheiden, dass die Versammlung als virtuelle Hauptversammlung nach § 118a AktG-E abgehalten wird. Eine Satzungsermächtigung zur Durchführung einer virtuellen Versammlung ist somit erst nach Ablauf des Übergangszeitraums ab dem 31. August 2023 erforderlich. Ausreichend ist mithin, dass eine solche Satzungsregelung auf der ordentlichen Hauptversammlung 2023 beschlossen wird, die ihrerseits auch ohne Satzungsermächtigung virtuell durchgeführt werden kann. Damit ist nicht nötig, in „vorauseilendem Gehorsam“ bereits in der aktuellen Hauptversammlungssaison eine Satzungsermächtigung zu schaffen – abgesehen davon, dass eine solche ohne geltende Gesetzesgrundlage wohl ohnehin nicht eintragungsfähig wäre.
Die Durchführung als virtuelle Hauptversammlung muss eine Reihe teilweise bereits aus Pandemiezeiten bekannter Voraussetzungen erfüllen:
Im Vorfeld eingereichte Fragen sind nach dem Regierungsentwurf bis spätestens einen Tag vor der Versammlung zu beantworten (§ 131 Abs. 1c Satz 1 1. HS AktG-E); bei börsennotierten Gesellschaften müssen Zugänglichmachung und Beantwortung auf der Internetseite erfolgen (§ 131 Abs. 1c Satz 2 AktG-E).
Der Regierungsentwurf erklärt das Freigabeverfahren nach § 246a AktG auch auf einen Hauptversammlungsbeschluss zur Änderung der Satzung nach § 118a Absatz 1 Satz 1 AktG-E für anwendbar. Das Freigabeverfahren hat sich bereits als taugliches Mittel gegen räuberische Aktionärsklagen erwiesen; es ist zu begrüßen, dass dieses Instrument den Gesellschaften auch bei Klagen gegen des satzungsändernden Hauptversammlungsbeschluss zur Verfügung steht.
Der Regierungsentwurf hat zahlreiche Kritik erfahren. Insbesondere wird kritisiert, dass die gesetzlichen Neuregelungen in der Praxis nicht handhabbar seien und an den Bedürfnissen gerade großer Publikumsgesellschaften vorbeigehen. Die Vorteile der Durchführung einer Hauptversammlung im virtuellen Format seien durch das Ziel, die Rechte der Aktionäre aus einer Präsenzversammlung in das virtuelle Format zu übertragen, weitgehend zunichte gemacht.
Tatsächlich tritt der noch dem Referentenentwurf zugrundeliegende Gedanke der Entzerrung der Hauptversammlung vielfach in den Hintergrund. Pointiert könnte man auch sagen, dass der Gesetzgeber etwa mit der undifferenzierten Ausweitung des Antragsrechts wohl die aus Vorpandemiezeiten bekannten Verhältnisse ermöglichen würde, die nicht nur ein erhebliches Störpotential aufwiesen und jedenfalls teilweise mit der legitimen Ausübung von Aktionärsrechten wenig zu tun hatten, sondern vielfach auch zu einer erheblichen Verlängerung der Hauptversammlung führten, die einer gelebten Aktionärsdemokratie kaum zuträglich sein kann. Verstärkt wird dieses Risiko durch die Möglichkeit, entsprechende Rechte gar „bequem von zu Hause“ auszuüben.
Hinzu kommt, dass mit dem Nebeneinander von Stellungnahme-, Auskunfts-, Rede- und Nachfragerechten weitere Instrumente geschaffen wurden, bei denen zweifelhaft erscheint, ob sie in ihrer Vielzahl und mitunter wenig praktikablen Ausgestaltung für die Befriedigung berechtigter Informationsinteressen erforderlich sind. Flankiert wird dies durch praktische Schwierigkeiten etwa bei der Bestimmung, ob tatsächlich eine Nachfrage vorliegt.
Letztlich wäre eine stärkere Orientierung an den positiven Erfahrungen der Corona-Gesetzgebung wünschenswert gewesen, um in diesem Bereich der lang überfälligen Modernisierung des Aktienrechts – und damit auch der Steigerung der Attraktivität des deutschen Kapitalmarkts – zum Durchbruch zu verhelfen.
von Dr. Oliver Rothley und Tobias Kraut
von Dr. Sebastian Beyer, LL.M. (Auckland) und Nikolaus Plagemann