Der Stein ist ins Rollen gekommen: Die EU wird einen neuen Rechtsrahmen für neue genomische Techniken erhalten. Die neue molekularbiologische Methode CRISPR/Cas9 (umgangssprachlich als „Genschere“ bezeichnet) ermöglicht es in nahezu allen lebenden Zellen und Organismen DNA Bausteine einfacher und präziser zu verändern als zuvor. Dieses Verfahren verheißt nicht nur Fortschritte in der Humanmedizin, sondern auch bei der Züchtung von Pflanzen und Tieren. Statt durch jahrelange Züchtung und Auslese lassen sich durch gezielte Manipulation des Erbgutes von Nutzpflanzen schneller Vorteile bei der landwirtschaftlichen Nutzung erzielen. Der Europäische Gerichtshof hatte der Anwendung dieser Methode in der Europäischen Union aber bereits 2018 einen Dämpfer verpasst, als er im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens entschied, (URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer), 25. Juli 2018, In der Rechtssache C‑528/16) auch bei mithilfe dieser neuen biotechnologischen Methode erzielten Organismen handele es sich um „genetisch veränderte Organismen“ im Sinne der EG Richtlinie 2001/18/EG über die absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Organismen (GVO Richtlinie“).(Richtlinie (EG) 2011/18)
Art. 2 Nr. 2 der GVO Richtlinie definiert als GVO einen „Organismus mit Ausnahme des Menschen, dessen genetisches Material so verändert worden ist, wie es auf natürliche Weise durch Kreuzen und/oder natürliche Rekombination nicht möglich ist“. Vom Anwendungsbereich der GVO Richtlinie sind allerdings gem. ihrem Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Anhang I B bestimmte Verfahren der genetischen Veränderung ausgenommen, wozu nach Nr. 1 des Anhangs auch die Mutagenese gehört.
Angelehnt an Erwägungsgrund 17 der GVO Richtlinie entschied der EuGH, dass die Anwendungsausnahme solche Techniken zur genetischen Veränderung umfassen soll, „die herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandt wurden und seit Langem als sicher gelten“. Im Gegensatz dazu stufte der EuGH die mit dem Einsatz von Gentechnik verbundenen Verfahren, die seit dem Erlass der GVO Richtlinie entstanden sind und deren Risiken für die Umwelt und die menschliche Gesundheit bislang noch nicht mit Sicherheit bestimmt werden können, auch als der GVO Richtlinie unterworfen ein. Der EuGH stellte ausdrücklich fest, der Rechtsrahmen für GVO sei auch auf danach entstandene Techniken anwendbar.
GVO dürfen in der EU nur dann als Saatgut aufs Feld oder als Lebens- oder Futtermittel auf den Markt kommen, wenn sie dafür zugelassen sind. In der Praxis kommt die Einstufung als GVO also einem Anbau- und Anwendungsverbot gleich.
Der derzeitige Rechtsrahmen für GVO beruht auf bestimmten Techniken der Biotechnologie wie sie seit den späten 1990er Jahren angewandt werden. Während herkömmlicherweise unter „Gentechnik“ die Einführung eines fremden Gens in den betreffenden Organismus verstanden wird, erlauben die neuen Züchtungsmethoden die präzise und zeitsparende Mutagenese des Erbguts von Kulturpflanzen, für die sich der Begriff „Genomeditierung“ durchgesetzt hat (Gemeinsame Stellungnahme „Wege zu einer wissenschaftlich begründeten, differenzierten Regulierung genomeditierter Pflanzen in der EU“ der Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, Deutsche Forschungsgemeinschaft und Union der deutschen Akademien der Wissenschaften, Seite 9). Die Molekularbiologinnen Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna erhielten 2020 für ihre „Genschere“ CRISPR/Cas9 den Chemie Nobelpreis.
Neben wissenschaftlichen Einwänden, die neuen Verfahren der Genomeditierung seien nicht mit der „Gentechnik“ gleichzusetzen, fehlen in der Praxis auch die Nachweisverfahren, um die Anwendung der neuen Verfahren zu kontrollieren, etwa bei der Einfuhr von Saatgut und Pflanzen.
Angesichts der EuGH Entscheidung C‑528/16 ersuchte der Rat der Europäischen Union im November 2019 die Kommission, eine Untersuchung zu dem Status neuartiger genomischer Verfahren im Rahmen des Unionsrechts sowie — falls angesichts der Ergebnisse der Untersuchung angemessen — einen Vorschlag zu unterbreiten. (BESCHLUSS (EU) 2019/1904 DES RATES vom 8. November 2019 L 293/103)
Im April 2021 veröffentlichte die EU Kommission daraufhin ihre Studie über den Status neuer gentechnischer Verfahren nach dem Unionsrecht insbesondere im Lichte des Urteils des Gerichtshofs in der Rechtssache C-528/16. (Studienbericht SWD (2021) 92)
Die Studie prägt den Begriff der „neuen genomischen Techniken“ (NGT) und macht deutlich, dass Organismen, die durch neue genomische Techniken gewonnen werden, unter die GVO-Vorschriften fallen. Allerdings erkennt die Studie an, dass die Entwicklungen in der Biotechnologie in Verbindung mit dem Mangel an Definitionen über die Bedeutung von Schlüsselbegriffen immer noch zu Unklarheiten bei der Auslegung einiger Konzepte und damit zu Rechtsunsicherheit führt. Die Studie definiert NGTs als "Techniken, die in der Lage sind, das genetische Material eines Organismus zu verändern, und die seit 2001 aufgetaucht sind oder entwickelt wurden", d.h. nachdem die bestehenden EU-Rechtsvorschriften über genetisch veränderte Organismen verabschiedet wurden. Sie legt den Status und die Verwendung von NGTs bei Pflanzen, Tieren und Mikroorganismen für landwirtschaftliche Lebensmittel sowie für industrielle und pharmazeutische Anwendungen dar. Das Recht hat Schwierigkeiten, mit dem sich rasch entwickelnden Bereich neuer genomischer Verfahren Schritt zu halten, und die derzeit in den Rechtsvorschriften verankerten Verfahren können nur schwer an den wissenschaftlichen Fortschritt angepasst werden.
Außerdem ist das derzeitige Zulassungsverfahren für GVO nicht auf die Förderung der Nachhaltigkeit im Agrar- und Ernährungssektor ausgerichtet.
Die EU Kommission plant neue Rechtsvorschriften für Pflanzen, die mithilfe bestimmter NGT gewonnen werden.
Im September 2021 veröffentlichte die EU Kommission einen Fahrplan (Abrufbar hier) über die Initiative zur Schaffung eines neuen Rechtsrahmens für durch gezielte Mutagenese und Cisgenese gewonnene Pflanzen. Bis 22. Oktober 2021 konnten Rückmeldungen abgegeben werden, die ebenfalls auf der Webseite der EU Kommission veröffentlicht sind. Im zweiten Quartal 2022 plant die EU Kommission eine öffentliche Konsultation. Im zweiten Quartal 2023 ist die Annahme eines konkreten Vorschlags für eine EU Verordnung durch die Kommission geplant.
Ziel ist es, die Innovation im Agrar- und Lebensmittelsystem unter Aufrechterhaltung eines hohen Schutzniveaus für die Gesundheit und Umwelt zu ermöglichen und zur Erreichung der Ziele des Europäischen „Green Deals“ und der Farm-to-Fork-Strategie beizutragen.
Bis der Vorschlag der Kommission das EU Gesetzgebungsverfahren durchläuft, werden noch Jahre vergehen, bevor eine entsprechende Verordnung zur Anwendung kommen kann. Bleibt zu hoffen, dass die neue Gesetzgebungsinitiative greifen kann, bevor die EU im Bereich neuer Verfahren der Genomeditierung den Anschluss verliert.
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