5. Juni 2024
Beitragsserie Femtech | Juni 2024 – 4 von 7 Insights
Der medizinische Fortschritt hat in den letzten Jahrzehnten erhebliche Verbesserungen in der Diagnose und Behandlung vieler Krankheiten gebracht, doch ein signifikantes Ungleichgewicht bleibt bestehen: Die Vernachlässigung spezifischer Gesundheitsdaten von Frauen in der Forschung.
Dieses Phänomen, bekannt als der Gender-Data-Gap, beeinträchtigt die Effektivität und Sicherheit der medizinischen Behandlung von Frauen erheblich. Parallel dazu entwickelt sich die Femtech-Branche, die innovative Technologien nutzt, um die Gesundheitsbedürfnisse von Frauen gezielt zu adressieren und zu verbessern.
Historisch betrachtet wurde der männliche Körper in der medizinischen Wissenschaft als Norm angesehen. Diese Praxis führte dazu, dass der Großteil des medizinischen Wissens aus Studien mit männlichen Probanden stammt. Diese Verzerrung hat weitreichende Konsequenzen für die Gesundheitsversorgung von Frauen, darunter unangepasste Medikamentendosierungen für den weiblichen Metabolismus und verzögerte oder fehlerhafte Diagnosen bei geschlechtsspezifischen Erkrankungen wie Herzkrankheiten oder Schlaganfällen.
In den USA wurde dieser Missstand durch das Inkrafttreten des NIH Revitalization Act im Jahr 1993 adressiert, welcher explizit die Einbeziehung von Frauen in klinischen Studien fordert, die von den National Institutes of Health finanziert werden. Dieses Gesetz legt fest, dass Frauen und Minderheiten in allen klinischen Forschungsprojekten angemessen repräsentiert sein müssen, wobei „angemessen“ bedeutet, dass die Studienteilnehmer die für die jeweilige Erkrankung relevante Bevölkerung widerspiegeln sollten.
Die nationalen rechtlichen Regelungen und das EU-Recht fordern seit Langem, dass in Deutschland und Europa ausschließlich Arzneimittel zugelassen werden, für die ausreichende Erkenntnisse sowohl für Frauen als auch für Männer unter anderem aus klinischen Prüfungen vorliegen.
In der EU wurde insofern das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer geschlechtergerechten Forschung gestärkt, insbesondere durch die Verordnung (EU) Nr. 536/2014 über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln. Diese Verordnung fordert in Anhang I Abschnitt D, dass das Antragsdossier eine Begründung für die Geschlechts- und Altersverteilung der Prüfungsteilnehmer enthalten muss und, wenn ein Geschlecht oder eine Altersgruppe von den klinischen Prüfungen ausgeschlossen wird oder darin unterrepräsentiert ist, eine Erläuterung der Gründe dafür und eine Begründung der Ausschlusskriterien. Präambel 14 der Verordnung betont zudem, dass die an einer klinischen Prüfung teilnehmenden Prüfungsteilnehmer repräsentativ für die Bevölkerungsgruppen, einschließlich der Geschlechter- und Altersgruppen, sein sollten, die voraussichtlich das untersuchte Arzneimittel anwenden werden, es sei denn, der Prüfplan enthält eine begründete andere Regelung. Diese Regelungen werden von den Empfehlungen der Ethikkommissionen flankiert, die eine ethische Überprüfung jeder klinischen Studie in Deutschland vornehmen und dabei spezielle Leitlinien zur Geschlechtergerechtigkeit beachten.
Auch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) sowie das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) arbeiten auf nationaler Ebene daran, geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Erforschung, Entwicklung, Zulassung und Überwachung neuer Arzneimittel und Therapien umfassend zu berücksichtigen. Ihr Ziel ist es, den Gender Data Gap im Bereich der Arzneimitteltherapie, insbesondere im Hinblick auf Frauen, zu schließen.
Pharmakoepidemiologische und Pharmakovigilanz-Studien sowie die Auswertung von Sicherheitssignalen erweitern das Wissen über geschlechtsspezifische Unterschiede bei Nebenwirkungen und erhöhen das Bewusstsein für mögliche Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen Patienten. Dies trägt entscheidend zur Verbesserung der Arzneimittelsicherheit bei. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) und das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) konzentrieren ihre Forschung auf aktuelle und relevante Themen, die sowohl die Arzneimittelzulassung als auch die Optimierung der Arzneimittelsicherheit betreffen. Die Forschungsgruppen für Pharmakogenomik und individualisierte Pharmakotherapie sowie Pharmakoepidemiologie des BfArM leisten dabei einen wesentlichen Beitrag zur Erforschung geschlechtsspezifischer Unterschiede in den pharmakologischen Wirkungen und Nebenwirkungen von Arzneimitteln. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse ermöglichen die Entwicklung moderner, auf den einzelnen Menschen abgestimmter Behandlungsansätze und erhöhen die Sicherheit neuer Arzneimittel für alle Patientinnen und Patienten.
Der vorliegende Entwurf für das neue Medizinforschungsgesetz zielt darauf ab, die bestehenden Regelungen zu verstärken und eine umfassende Berücksichtigung aller Vielfalten bereits beim Ethik-Votum für klinische Studien zu gewährleisten. Gemäß § 41c des Entwurfs wird eine spezialisierte Ethik-Kommission für besondere Verfahren eingerichtet, die sicherstellt, dass sowohl weibliche als auch männliche Mitglieder und stellvertretende Mitglieder gleichberechtigt vertreten sind. Diese Kommission besteht aus Mitgliedern mit interdisziplinärer Expertise, darunter Juristen, Ethik-Experten, Statistiker, Ärzte mit Erfahrungen in der klinischen Medizin, Fachärzte für klinische Pharmakologie oder für Pharmakologie und Toxikologie, sowie Laien. Durch diese Maßnahmen soll die Vielfaltsperspektive in der medizinischen Forschung von Beginn an stärker integriert und gefördert werden.
Trotz dieser legislativen Fortschritte bleibt die tatsächliche Umsetzung in der Praxis eine Herausforderung. Viele Studien zeigen, dass Frauen, insbesondere in den frühen Phasen der medizinischen Forschung, immer noch unterrepräsentiert sind. Die kontinuierliche Überwachung durch Aufsichtsbehörden und die Anpassung der gesetzlichen Vorgaben sind daher entscheidend, um eine echte Gleichstellung in der medizinischen Forschung zu erreichen und die Qualität der Gesundheitsversorgung für Frauen zu verbessern.
Die Schließung des Gender-Data-Gaps in der medizinischen Forschung erfordert eine fortlaufende finanzielle und institutionelle Unterstützung für Studien, die sich mit geschlechtsspezifischen Unterschieden beschäftigen. Ein weiteres Hindernis ist das kulturelle und institutionelle Beharren auf veralteten medizinischen Modellen, die den männlichen Körper als Standard setzen. Strategien zur Überwindung dieser Herausforderungen umfassen die Förderung von Geschlechtergerechtigkeit in Forschungsförderungsinstitutionen und die verstärkte Einbeziehung von Frauen in die Forschungsentwicklung auf allen Ebenen. Zudem zeichnen sich Trends ab, die auf eine stärkere Regulierung und Unterstützung von Femtech hindeuten, wie etwa neue Gesetzesinitiativen, die eine gleichmäßigere Geschlechterverteilung in klinischen Studien vorschreiben.
Die Notwendigkeit, den Gender-Data-Gap in der medizinischen Forschung zu schließen, wird durch verschiedene rechtliche und politische Initiativen unterstrichen. Obwohl es kein spezifisches „Gesetz zur Förderung der geschlechtergerechten Forschung“ in Deutschland gibt, existieren Förderprogramme und Richtlinien, die darauf abzielen, die Geschlechtergerechtigkeit in der Forschung zu verbessern. Diese Initiativen fordern, dass alle medizinischen Forschungsprojekte, die Bundesmittel erhalten, sicherstellen müssen, dass Frauen und Männer in den Studien gleichberechtigt vertreten sind. Zum Beispiel gibt es Richtlinien, die empfehlen, dass in klinischen Studien die Teilnahmequote von Frauen möglichst hoch sein sollte, es sei denn, es gibt eine valide wissenschaftliche Begründung für eine Abweichung.
Die Entwicklung und Implementierung dieser Richtlinien und Förderprogramme wurde maßgeblich von der interministeriellen Arbeitsgruppe für Geschlechtergerechtigkeit in der Wissenschaft vorangetrieben, die von führenden Wissenschaftlerinnen und feministischen Organisationen unterstützt wird. Diese Gruppen betonen, wie geschlechtsneutrale Forschungsansätze zu Medikamenten und Behandlungen führen können, die für Frauen suboptimal oder sogar schädlich sind.
Ein Beispiel für ein solches Förderprogramm ist das „Gendered Innovations“ Projekt der Europäischen Kommission, das darauf abzielt, die Integration der Geschlechterdimension in Forschung und Innovation zu fördern. Dieses Projekt bietet konkrete Methoden und Fallstudien, um Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu helfen, geschlechtsspezifische Unterschiede in ihren Forschungsprojekten zu berücksichtigen.
Zusätzlich zu den nationalen Initiativen gibt es auf europäischer Ebene Bemühungen, die Geschlechtergerechtigkeit in der Forschung zu fördern. Die Europäische Union hat Richtlinien vorgelegt, die vorschreiben, dass alle von der EU finanzierten Gesundheitsforschungsprojekte eine Geschlechterperspektive integrieren müssen, um eine gleichberechtigte Teilnahme und Behandlung in klinischen Studien zu gewährleisten. Ein weiteres Beispiel ist das Rahmenprogramm „Horizont Europa“, das Geschlechtergerechtigkeit als Querschnittsthema verankert hat und sicherstellt, dass alle Forschungs- und Innovationsprojekte die Geschlechterdimension berücksichtigen müssen.
Diese rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen sind entscheidend dafür, dass medizinische Forschungsergebnisse verbessert werden, indem sie sicherstellen, dass die unterschiedlichen biologischen und geschlechtsspezifischen Reaktionen beider Geschlechter angemessen untersucht werden. Die Durchsetzung dieser Richtlinien und Programme erfordert eine kontinuierliche Überwachung und Anpassung der Forschungspraktiken, um die Integrität der medizinischen Wissenschaft zu wahren und die Gesundheitsversorgung für alle Geschlechter zu optimieren.
Ein weiteres Beispiel ist die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), die in ihren Förderprogrammen ebenfalls die Berücksichtigung von Geschlechteraspekten fordert. Projekte, die Geschlechteraspekte berücksichtigen, können dadurch zusätzliche Fördermöglichkeiten erhalten. Dies soll dazu beitragen, geschlechtsspezifische Unterschiede in der Forschung systematisch zu berücksichtigen und den Gender-Data-Gap zu verringern.
Zusammengefasst zeigen diese Maßnahmen und Initiativen, dass die Förderung der geschlechtergerechten Forschung sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene ein wichtiges Anliegen ist. Die kontinuierliche Anpassung und Überwachung dieser Maßnahmen ist notwendig, um eine faire und ausgewogene Gesundheitsversorgung für alle Geschlechter zu gewährleisten.
Der Gender-Data-Gap in der medizinischen Forschung hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Gesundheit von Frauen. Der Aufstieg von Femtech und die verstärkte Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Unterschiede in der Forschung markieren den Beginn einer umfassenderen und gerechteren medizinischen Praxis. Diese Entwicklung unterstreicht die Notwendigkeit fortgesetzter Anstrengungen, rechtlicher Überwachung und ständiger Innovation von Technologien, die auf die spezifischen Bedürfnisse von Frauen zugeschnitten sind. Das ultimative Ziel besteht darin, eine Gesundheitsversorgung zu gewährleisten, die alle Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht fair und effektiv behandelt.
Die Behebung des Gender-Data-Gaps und die Förderung der Femtech-Branche sind essenziell, um die Qualität der medizinischen Forschung und die Gesundheitsversorgung für Frauen weltweit zu verbessern. Durch den Abbau von Barrieren und die Unterstützung innovativer Lösungen kann eine umfassendere und gerechtere Gesundheitsversorgung erreicht werden. Doch warum sind gerade die rechtliche Perspektive und die Förderung von Femtech so entscheidend? Rechtliche Rahmenbedingungen sichern die Einhaltung von Datenschutz und ethischen Standards, während Femtech gezielt auf die lange vernachlässigten Gesundheitsbedürfnisse von Frauen eingeht. Nur durch diese koordinierten Anstrengungen kann es gelingen, die globalen Gesundheitsdisparitäten, denen Frauen gegenüberstehen, zu reduzieren und letztlich zu eliminieren.
Der Ausbau und die Durchsetzung von Gesetzen und Regelungen, die geschlechtergerechte Forschung fördern, sind unerlässlich. Sie gewährleisten, dass die Unterschiede in den biologischen und geschlechtsspezifischen Reaktionen beider Geschlechter adäquat berücksichtigt werden. Eine fortlaufende Überwachung und Anpassung der Forschungspraktiken sind notwendig, um die Integrität der medizinischen Wissenschaft zu wahren und eine optimale Gesundheitsversorgung für alle Geschlechter sicherzustellen. Damit einhergehend muss der Fokus weiterhin auf der Entwicklung und Implementierung universeller Datenschutzstandards liegen, um das Vertrauen in Femtech-Anwendungen zu stärken und deren Akzeptanz und Effektivität in der klinischen Praxis zu fördern.
6. June 2024
5. June 2024
von Dr. Niclas von Woedtke, MBA (Kellogg/ WHU), Dr. Philipp Bergjans
von mehreren Autoren