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Nikolaus Plagemann

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13. Dezember 2022

Einarbeitung der Aufsichtsratsmitglieder, auch in Vorgänge vor Beginn ihrer Amtszeit

  • Briefing

Zugleich: Besprechung des Urteils des OLG Hamm vom 6. April 2022, 8 U 73/12

In seinem Urteil vom 6. April 2022 hat das OLG Hamm darauf erkannt, dass sechs frühere Aufsichtsratsmitglieder der 2009 insolventen Arcandor AG, ehemals Holding des Karstadt-Konzerns, der Insolvenzmasse der Arcandor AG auf rund 53,6 Mio. Euro Schadenersatz haften.


Urteilstatbestand

Während Ihrer Amtszeit hatten die Beklagten Schadenersatzansprüche gegen Vorstandsmitglieder der Arcandor AG nicht rechtzeitig geltend gemacht, welche daraus erwachsen waren, dass der Vorstand Anfang der 2000er Jahre fünf Karstadt-Warenhausimmobilien jeweils deutlich unter Marktwert an einen Fonds verkauft und anschließend zu überhöhten Konditionen zurückgemietet hatte. Nach Maßgabe der seinerzeit einschlägigen Verjährungsfrist drohte die Verjährung der betreffenden Schadenersatzansprüche ab Dezember des Jahres 2006.

Bemerkenswert vor dem Hintergrund des nicht zeitgerecht verfolgten Innenregresses ist, dass der Aufsichtsrat sich im November 2006 bewusst entschieden hatte, Pflichtverstöße der handelnden Vorstandsmitglieder nicht zu verfolgen, sowie, die entsprechenden Schadenersatzansprüche vor Eintritt der Verjährung nicht geltend zu machen und die Verjährung auch nicht anderweitig zu hemmen. Bei den betreffenden Beschlüssen ließ sich der Aufsichtsrat von zwei Erwägungen leiten. Zum einen ging er davon aus, dass das Privatvermögen der Vorstandsmitglieder zur Tilgung des Schadens nicht ausreichen werde. Zum anderen nahm er an, dass die seinerzeit bestehende D&O-Versicherung nicht in Anspruch genommen werden könne, da diese die Deckung voraussichtlich unter Verweis auf das vorsätzliche Handeln der Vorstandsmitglieder verneinen werde. Zwar sind beide Argumente dem Aufsichtsrat seinerzeit durch ein anwaltliches Gutachten und die hauseigene Rechtsabteilung bescheinigt worden. Nach Ansicht des OLG Hamm aber hätten die Aufsichtsratsmitglieder im Rahmen ihrer Entscheidungsfindung die jeweiligen Einschätzungen der Gutachter verifizieren müssen und durften ohne die entsprechende Plausibilitätskontrolle nicht berechtigterweise auf den Expertenrat vertrauen. Die den Gutachten zu Grunde gelegten Annahmen nämlich seien offenkundig nicht belastbar gewesen. Der Einwand, dass die Beklagten auf die Bewertung ihrer Berater vertraut hatten (sog. Expert Reliance Defence), ist damit ohne Erfolg geblieben.


Rechtliche Würdigung

Die Rechtsfigur des Vertrauens auf Expertenrat ist im vorliegenden Fall im Kontext der ARAG/Garmenbeck-Doktrin zu sehen, die der Bundesgerichtshof mit seiner Entscheidung aus dem Jahr 1997 geprägt hat (BGH, Urt. v. 21. April 1997 - II ZR 175/95 - BGHZ 135, 244). Danach ist der Aufsichtsrat grundsätzlich verpflichtet, Schadenersatzansprüche gegen die Vorstandsmitglieder zu verfolgen, sofern er nach einer sorgfaltspflichtgemäßen Analyse des Prozessrisikos und der möglichen Einwände der Anspruchsgegner von einer voraussichtlichen Durchsetzbarkeit auszugehen hat. Von einer Verfolgung darf der Aufsichtsrat hingegen nur ausnahmsweise absehen, wenn gewichtige Gründe des Gesellschaftswohls dagegensprechen und diese die für die Rechtsdurchsetzung sprechenden Umstände überwiegen oder ihnen zumindest gleichwertig sind. Die Rechtsfigur des Vertrauens auf Expertenrat kann aber auch in anderen Konstellationen eine Rolle spielen, so insbesondere im Rahmen der Entscheidungsfindung des Vorstands, auch im Zusammenhang mit den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG (sog. Business Judgement Rule).

Organmitglieder haften für einen eingetretenen Schaden nur, wenn sie diesen schuldhaft herbeigeführt haben. Das Verschulden kann durch das Vertrauen auf fremden Rat ausgeschlossen sein. Die vier Voraussetzungen eines schutzwürdigen Vertrauens auf Expertenrat hat der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 20. November 2011 (II ZR 234/09 - „ISION“) aufgestellt. Das Verschulden ist nicht gegeben, wenn der Experte (i) hinreichend fachlich qualifiziert und (ii) unabhängig ist, (iii) ihm sämtliche für seine Begutachtung bedeutsamen Umstände vollumfänglich offengelegt wurden, und (iv) die erteilte Auskunft einer sorgfältigen eigenen Plausibilitätskontrolle unterzogen wurde. Die Darlegungs- und Beweislast für diese Merkmale im Prozess trifft grundsätzlich das Organ, das sich auf das Vertrauen auf den Expertenrat berufen will.

Nach Ansicht des OLG Hamm war die Beratung des Aufsichtsrats offenkundig unzureichend und daher untauglich, um eine tragfähige Grundlage für seine Entscheidung zu bilden. Ein schutzwürdiges Vertrauen auf den Rat eines Experten setze voraus, dass die maßgeblichen Sachverhaltsfeststellungen, die für den fachlichen Rat relevant sind, vollständig sind und vom Aufsichtsrat selbst hinreichend aufgeklärt wurden.


Konsequenzen für die Praxis

Erneut hat die Rechtsprechung bestätigt, dass das Absehen von der Durchsetzung von Schadenersatzansprüchen gegen (ehemalige) Vorstandsmitglieder nur ausnahmsweise und unter den besonderen, durch die ARAG/Garmenbeck-Entscheidung vorgegebenen, Voraussetzungen zulässig ist. Die Konstellation des Ausgangsfalls ist in der Praxis keine Seltenheit. In der Aufsichtsratspraxis werden ähnlich gelagerte Fragestellungen aller Voraussicht nach auch in der Zukunft wieder auftreten. Drohen mögliche Schadenersatzansprüche gegen (ehemalige) Vorstandsmitglieder zu verjähren, wenn die Sachlage noch nicht vollständig aufgeklärt ist oder der Aufsichtsrat sich selbst noch kein abschließendes Bild hat machen können, ist dem Aufsichtsrat anzuraten, verjährungshemmende Maßnahmen zu ergreifen, um eine sorgfaltsgemäße Entscheidungsgrundlage sicherzustellen.

Als Weiteres kommt hinzu, dass bei der Einbindung von internen und externen sachverständigen Stellungnahmen in die Entscheidungsfindung der Gesellschaftsorgane generell erhebliche Anforderungen zu beachten sind und dass auch eine diesen Voraussetzungen genügende Beratung die Organe nicht von ihrer eigenständigen Willensbildung entlastet. Gremien, die für ihre Entscheidungsfindung fachkundige Beratung heranziehen, müssen den ihnen erteilten Rat nicht nur im Ergebnis kritisch hinterfragen, sondern auch überprüfen, ob der von den externen Beratern zugrunde gelegte Sachverhalt sorgfältig und vollständig erfasst wurde. Sollten nach einer entsprechend intensiven Auseinandersetzung Zweifel an der Schlüssigkeit des Ergebnisses oder an der Vollständigkeit und Richtigkeit der erforderlichen Informationen verbleiben, sollten diese im Aufsichtsrat adressiert werden und unter Umständen eine Aussprache in einer Sitzung anberaumt werden.

Neben den offensichtlichen Gesichtspunkten der ARAG/Garmenbeck- und der ISION-Rechtsprechung, die aufgrund der besonderen Konstellation des Ausgangsfalls in dem Urteil des OLG Hamm in Kombination auftreten, ergibt sich ein in den meisten Kommentierungen, die zu der Entscheidung des OLG Hamm bisher veröffentlicht wurden, noch nicht hinreichend gewürdigter, zugleich aber für die Praxis überaus bedeutsamer Aspekt aus dem zeitlich gestreckten Verlauf des Sachverhalts:

Mit der Entscheidung hat die Rechtsprechung die Notwendigkeit einer umfassenden und gewissenhaften Einarbeitung der Aufsichtsratsmitglieder verdeutlicht. Die zur Leistung von Schadenersatz verurteilten Aufsichtsratsmitglieder haften im Ergebnis für eine eigenständige Pflichtverletzung, die darin begründet ist, dass sie Haftungsanspräche gegen frühere Vorstandsmitglieder haben verjähren lassen. Um ihre Überwachungsaufgabe sachgerecht wahrnehmen zu können, müssen neu ins Amt gewählte Aufsichtsratsmitglieder nicht nur neue Fragestellungen begleiten, sondern sich auch mit der jüngeren Vergangenheit auseinandersetzen. Bei der Aufnahme der Tätigkeit ist Aufsichtsratsmitgliedern ohnehin anzuraten, sich – etwa durch die Lektüre der Protokolle aus den zurückliegenden zwei Geschäftsjahren – einen Überblick über die in den Aufsichtsratssitzungen regelmäßig behandelten Gegenstände zu verschaffen und sich möglichst zügig eine sichere Meinung über Umfang und Intensität der Überwachung zu bilden. Wenn aber konkrete Anlässe gegeben sind, kann sich die Notwendigkeit, Licht ins Dunkel der Geschichte zu werfen, ausweiten und eine weitergehende Auswertung von Dokumenten und Unterlagen bedingen. Wenn – wie in dem Ausgangsfall – im Aufsichtsrat eine Stellungnahme zu bereits mehrere Jahre zurückliegenden Vorgängen behandelt wird, ist den Aufsichtsratsmitgliedern anzuraten, den der Stellungnahme zu Grunde gelegten Sachverhalt besonders sorgfältig und kritisch auf Richtigkeit und Vollständigkeit zu überprüfen und dabei gegebenenfalls weitere Erkenntnisquellen heranzuziehen, insbesondere, wenn sich die betreffenden Vorgänge vor dem Beginn der eigenen Amtszeit zugetragen haben.

Für die Unterstützung bei der Amtseinführung neuer Aufsichtsratsmitglieder auch unter diesem Aspekt haben wir ein Angebot ausgearbeitet:

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