22. Oktober 2021
Inside ESG & Compliance – 4 von 12 Insights
Fehlentscheidungen sind haftungsträchtig. Soweit Vorstandsmitglieder oder Geschäftsführer unternehmerische Fehlentscheidungen treffen, was sich meist erst im Nachhinein beurteilen lässt, sind sie gegenüber ihrer Gesellschaft im Grundsatz persönlich zum Schadensersatz verpflichtet. Im Prozess müssen sie den Entlastungsbeweis führen, dass sie nicht schuldhaft gehandelt haben (§ 93 Absatz 2 Satz 2 AktG). Da allerdings fast jede unternehmerische Tätigkeit und Entscheidung stets mit einer gewissen Risikoabwägung verbunden ist, muss zugunsten von Vorstandsmitgliedern oder Geschäftsführern ein geschützter Ermessensspielraum verbleiben, in dem eine Schadensersatzpflicht auch bei Fehlentscheidungen ausgeschlossen ist. Andernfalls würde jegliche Risikobereitschaft der Unternehmensleitung zur Weiterentwicklung eines (Tech-)Unternehmens bereits im Keim erstickt werden. Denn das Damoklesschwert einer drohenden Schadensersatzhaftung im Fall eines späteren Misserfolgs der zuvor getroffenen Entscheidung würde immer über der Unternehmensleitung schweben.
Für einen Teilbereich der Entscheidungen, die von einer Unternehmensleitung getroffen werden, wurde dieser geschützte Ermessensspielraum in § 93 Absatz 1 Satz 2 AktG unter dem Stichwort Business Judgement Rule kodifiziert. Danach liegt eine Pflichtverletzung nicht vor, wenn ein Mitglied des Vorstands oder der Geschäftsführung bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln. Die Business Judgement Rule schützt die Unternehmensleitung daher im Fall von unternehmerischen Ermessensentscheidungen.
Keinen Schutz bietet die Business Judgement Rule hingegen im Fall von rechtlichen Unsicherheiten, die die Unternehmensleitung in ihre Ermessensentscheidung einfließen lassen muss. Immer wieder taucht daher in der Diskussion über die Sorgfaltspflichten von Vorstandsmitgliedern und Geschäftsführern die Frage auf, ob es neben der Business Judgement Rule auch eine „Legal Judgement Rule“ gibt. Aus einer Legal Judgement Rule würde sich ein zusätzlicher geschützter Ermessenspielraum zugunsten der Vorstandsmitglieder oder Geschäftsführer ergeben, soweit sie eine Entscheidung vor dem Hintergrund einer unsicheren Rechtslage treffen, etwa, weil eine höchstrichterliche Rechtsprechung zu einer Streitfrage noch nicht existiert. Vorstandsmitglieder oder Geschäftsführer könnten sich dann auf die für ihr Unternehmen günstige Rechtsauffassung stützen, ohne das Risiko einzugehen, später nach einem anderslautenden Urteil des BGH in die Haftung genommen zu werden. Gerade für Tech-Unternehmen, deren Geschäftsmodell oft noch nicht durch höchstrichterliche Entscheidungen abgesichert ist, stellt sich diese oft existenzielle Frage.
Soweit die Existenz einer Legal Judgement Rule bejaht wird, orientieren sich ihre Tatbestandsvoraussetzungen an denjenigen der in § 93 Absatz 1 Satz 2 AktG kodifizierten Business Judgement Rule. Die Business Judgement Rule selbst gewährt Vorstandsmitgliedern und Geschäftsführern einen geschützten Ermessensspielraum, wenn die folgenden vier Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind:
Die Reichweite der Business Judgement Rule wird „begrenzt“ durch die Legalitätspflicht der Unternehmensleitung. Ihre Mitglieder haben also gerade keinen Ermessenspielraum, ob sie sich bei einer Entscheidung an die geltenden Gesetze und Rechtsvorschriften halten oder nicht. Auch sogenannte „nützliche“ Gesetzesverstöße, die also dem Unternehmen einen wirtschaftlich Vorteil bringen, sind nicht zulässig, wie beispielsweise Kartellverstöße. Der Anwendungsbereich der Business Judgement Rule ist für rechtswidrige Entscheidungen erst gar nicht eröffnet.
Durchbrochen wird diese Legalitätspflicht allerdings wiederrum bei bloßen Vertragspflichten des Unternehmens. So zählen Verträge nicht zu den von der Legalitätspflicht umfassten Rechtsvorschriften. Vorstandsmitglieder oder Geschäftsführer können also beispielsweise entscheiden, einen Vertrag nicht zu erfüllen und das Risiko eines Schadensersatzprozesses einzugehen, wenn es für das Unternehmen einen wirtschaftlichen Vorteil bringt.
Ist nun eine weitere Durchbrechung der Legalitätspflicht bei unsicherer Rechtslage möglich? In der Fachliteratur wird dies teilweise bejaht. So solle die Business Judgement Rule analog als Legal Judgement Rule auf Entscheidungen bei unsicherer Rechtslage anzuwenden sein, weil sie einen praktikablen Umgang mit Rechtsrisiken für die Organe bieten würde. Die oben dargestellten Tatbestandsvoraussetzungen der Business Judgement Rule aus § 93 Absatz 1 Satz 2 AktG sollen entsprechend modifiziert auf Fälle einer Entscheidungsfindung bei unsicherer Rechtslage angewendet werden.
Der BGH lehnt das in seiner ISION-Entscheidung (Urteil vom 20.9.2011, II ZR 234/09) allerdings ab. Das Gericht löst die Fälle von Entscheidungen bei unsicherer Rechtslage stattdessen allein nach den Grundsätzen des Verbotsirrtums im Rahmen der Schuldfrage. So kann sich ein Vorstandsmitglied gerade nicht darauf berufen, die Rechtslage falsch eingeschätzt zu haben. „Ein Organmitglied muss wie jeder Schuldner für einen Rechtsirrtum einstehen, wenn er schuldhaft gehandelt hat“, so der BGH.
Dabei sind nach BGH an das Vorliegen eines unverschuldeten Rechtsirrtums strenge Maßstäbe anzulegen. So muss das Vorstandsmitglied die Rechtslage sorgfältig prüfen, soweit erforderlich Rechtsrat einholen und die höchstrichterliche Rechtsprechung beachten. Ein Verschulden der mandatierten Rechtsanwälte muss sich das Vorstandsmitglied allerdings nicht zurechnen lassen.
Um den strengen Anforderungen des BGH im ISION-Urteil an die dem Vorstand obliegende Prüfung der Rechtslage zu genügen, muss sich der Vorstand, soweit er selbst nicht über die erforderliche Sachkunde verfügt, (1.) unter umfassender Darstellung der Verhältnisse der Gesellschaft und Offenlegung der erforderlichen Unterlagen (2.) von einem unabhängigen, für die zu klärende Frage fachlich qualifizierten Berufsträger beraten lassen und (3.) die erteilte Rechtsauskunft einer sorgfältigen Plausibilitätskontrolle unterziehen. Die Rechtsauskunft muss schriftlich erfolgen. Soweit die Fachexpertise in der Rechtsabteilung vorhanden ist, kann deren Prüfung ausreichen.
Die Legal Judgement Rule bleibt ein Phantom. Auch wenn die ablehnende Rechtsprechung des BGH mit guten Argumenten kritisiert wird, ist sie für die Beratungspraxis maßgeblich. Bei unsicherer Rechtslage gilt daher nicht das Haftungsprivileg der Business Judgement Rule analog. Vielmehr kann sich ein Vorstandsmitglied oder Geschäftsführer nur über einen unverschuldeten Verbotsirrtum enthaften. Er muss dazu Rechtsrat einholen und dabei die Kriterien der ISION-Entscheidung beachten. So muss ein unabhängiger Experte ausgewählt und dieser vollständig instruiert werden. Der schriftliche Rechtsrat muss anschließend auf Plausibilität überprüft werden. Verbleiben Zweifel, kann es ratsam sein, eine Second Legal Opinion einzuholen.
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