Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union hätten die EU-Whistleblower-Richtlinie („EUWR“) bis Freitag, den 17.12.2021, in nationales Recht überführen müssen. Wie viele andere EU-Mitgliedsstaaten hat der deutsche Gesetzgeber diese Umsetzungsfrist verstreichen lassen. Viele Unternehmen – insbesondere solche, die bislang noch gar kein Hinweisgebersystem implementiert haben – sehen sich daher seit dem 18.12.2021 mit einer unsicheren Rechtslage konfrontiert.
Die aktuell drängendsten Fragen lauten wie folgt:
Was gilt ab dem 18.12.2021 für mein Unternehmen? Gilt die EUWR ggf. sogar unmittelbar?
EU-Richtlinien verpflichten im Grundsatz lediglich die Mitgliedstaaten, den Inhalt der jeweiligen Richtlinie – hier der EUWR – in nationales Recht umzusetzen. Unmittelbar anwendbar sind allerdings solche Vorschriften einer Richtlinie, die als „self-executing“ einzustufen sind. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie so klar und bedingungsunabhängig formuliert sind, dass es keiner weiteren Umsetzungsakte bedarf, um festzustellen, welche Ansprüche aus der Richtlinie bestehen, weil sich der Inhalt der Regelungen bereits vollständig der Richtlinie entnehmen lässt. Dies gilt aber nur soweit dadurch nicht private Rechtssubjekte betroffen sind. Insofern gelten die Normen der EUWR ab dem 18.12.2021 unmittelbar „nur“ für öffentliche Unternehmen.
Bestehen für Unternehmen, die kein Hinweisgebersystem eingerichtet haben, dennoch akute Risiken?
Die EUWR sieht selbst keine wirtschaftlichen Sanktionen für die Nicht-Einrichtung eines ihren Vorgaben entsprechenden Hinweisgebersystems vor, insbesondere keine Geldbußen. Auch wenn die EUWR aus den genannten Gründen nicht unmittelbar im Verhältnis gegenüber privatwirtschaftlichen Unternehmen gilt, besteht dennoch das Risiko (i) einer richtlinienkonformen Auslegung (z.B. arbeitsrechtlicher Vorschriften im Rahmen von Kündigungsschutzprozessen), eines (legitimen) Know-how-Abflusses auf Grund von öffentlichen Meldungen (insbesondere von Geschäftsgeheimnissen) sowie die Gefahr von Reputationsschäden.
Wer oder was fällt überhaupt in den Anwendungsbereich der EUWR?
Die EUWR gilt für juristische Personen des privaten und des öffentlichen Sektors sowie für Gemeinden ab 10.000 Einwohnern. Die Verpflichtung zur Einrichtung interner Meldekanäle und Verfahren für interne Meldungen und Folgemaßnahmen trifft jedoch nur privat-rechtliche Arbeitgeber mit mindestens 50 Beschäftigten. Für Arbeitgeber mit 50 bis 249 Beschäftigten sieht die EUWR zudem eine verlängerte Frist für die Einrichtung interner Meldestellen bis zum 17.12.2023 vor. Inhaltlich sieht die EUWR vor, dass die Meldekanäle gegenüber allen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern des Unternehmens offenstehen müssen. Der Begriff „Arbeitnehmer/in“ wird dabei unionsrechtlich, d.h. weit, ausgelegt (umfasst sind daher z.B. auch Auszubildende). Ebenso erfasst sind Beamte.
Welche Schutzmaßnahmen verlangt die EUWR?
Es zählt zu den Kernpflichten für Unternehmen,
- Hinweisgeberinnen und Hinweisgebern vor Repressalien jeder Art – direkt oder indirekt, einschließlich der Androhung und des Versuchs – zu schützen und
- die Vertraulichkeit der Identität von Hinweisgeberinnen und Hinweisgebern zu wahren.
Unter Repressalien im Sinne der EUWR sind insoweit alle direkten oder indirekten Handlungen oder Unterlassungen in einem beruflichen Kontext zu verstehen, die durch eine interne oder externe Meldung oder eine Offenlegung ausgelöst werden und durch die eine ungerechtfertigter Nachteil für den/die Hinweisgeber:in entstehen kann (z.B. Kündigung oder Suspendierung, Abmahnung, Versetzung oder Aufgabenverlagerung, ausbleibende Beförderung, Nichtbewilligung einer Fortbildung, soziales Ausgrenzung, Mobbing etc.)
Welche Meldekanäle kommen zur Einrichtung eines unternehmensinternen Hinweisgebersystems in Betracht?
Die Entscheidung darüber, welche Form eines Hinweisgebersystems eingerichtet wird, liegt im Ermessen des jeweiligen Unternehmens. Verschiedene Arten von Meldekanälen sind dabei grundsätzlich denkbar. So kommt beispielweise neben den technischen und webbasierten Hinweisgebersystemen auch weiterhin eine E-Mail-Adresse, Telefonnummer oder der Briefkasten als Meldekanal in Betracht, wobei die Ausgestaltung u.a. auf Grund der Anforderungen an die Vertraulichkeit und Rückkopplung durchaus herausfordernd ist. Auf Wunsch des Hinweisgebers/der Hinweisgeberin muss aber auch ein physisches Treffen mit der als internen Meldestelle agierenden Einheit ermöglicht werden.
Ist der Betriebsrat bei der Einrichtung eines Hinweisgebersystems und der Aufklärung von Meldungen zu involvieren?
Der Betriebsrat hat im Regelfall bei der Implementierung eines Hinweisgebersystems ein Mitbestimmungsrecht, d.h. dass das Hinweisgebersystem in der Regel nicht ohne die vorherige Zustimmung des Betriebsrates eingeführt werden darf. In Konzernen oder Unternehmensgruppen ist sorgfältig die Zuständigkeit des Konzernbetriebsrates, der Gesamtbetriebsräte und/ oder der lokalen Betriebsräte zu prüfen und bei Zweifeln auf Delegationsbeschlüsse hinzuwirken.
Reicht es in Unternehmensgruppen aus, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Tochtergesellschaften Zugang zu zentral eingerichteten Hinweisgebersystemen zu gewähren?
Hierbei handelt es sich um eine der aktuell am heißesten diskutierten organisatorischen Fragen. Denn nach Auffassung der EU-Kommission, die sich zu dieser Frage im Sommer 2021 geäußert hat, stellt ein konzernweites zentrales Hinweisgebersystem bei der Muttergesellschaft keine zulässige Ressourcenteilung dar, sodass Tochtergesellschaften, die aufgrund ihrer Mitarbeiterzahl selbst in den Anwendungsbereich fallen, (zusätzlich) noch ein eigenes dezentrales Hinweisgebersystem einrichten müssen. Es wird mit Spannung erwartet, wie sich der deutsche Gesetzgeber hierzu verhält.
Wie positioniert sich die neue Ampelkoalition zum Schutz von Whistleblowern?
Im Koalitionsvertrag heißt es zum Thema Whistleblowing konkret: „Wir setzen die EU-Whistleblower-Richtlinie rechtssicher und praktikabel um. Whistleblowerinnen und Whistleblower müssen nicht nur bei der Meldung von Verstößen gegen EU-Recht vor rechtlichen Nachteilen geschützt sein, sondern auch von erheblichen Verstößen gegen Vorschriften oder sonstigem erheblichen Fehlverhalten, dessen Aufdeckung im besonderen öffentlichen Interesse liegt. Die Durchsetzbarkeit von Ansprüchen wegen Repressalien gegen den Schädiger wollen wir verbessern und prüfen dafür Beratungs- und finanzielle Unterstützungsangebote.“ Hervorzuheben ist, dass
- sich der sachliche Anwendungsbereich eines Umsetzungsgesetzes neben Verstößen gegen EU-Recht wohl auch auf Verstöße gegen nationales Recht, insbesondere solche, die straf- oder bußgeldbewehrt sind, erstrecken dürfte, und
- finanzielle Unterstützungsangebote geprüft werden sollen, d.h. auch finanzielle Anreize für potentielle Hinweisgeberinnen und Hinweisgebern (Kompensationen?) im Raum stehen, ähnlich wie das in den USA der Fall ist.