Das Sondervotum oder dissenting opinion stammt aus dem anglo-amerikanischen Rechtskreis, sie ist dem deutschen Recht fremd. Hierzulande findet sich die dissenting opinion beim Bundesverfassungsgericht. Dort ist sie gesetzlich ausdrücklich in § 30 Abs. 2 BVerfGG zugelassen, ebenso an einigen Landesverfassungsgerichten; an allen anderen staatlichen Gerichten wird sie für unzulässig erachtet.
Ob die dissenting opinion in der Handelsschiedsgerichtsbarkeit zulässig ist, ist in der Literatur umstritten. Gerade in common law-Rechtsordnungen steht außer Frage, dass die Abgabe einer dissenting opinion durch einen Minderheitsschiedsrichter zulässig ist. Im deutschen Schrifttum ist dagegen die Meinung weit verbreitet, dissenting opinions verletzten das Beratungsgeheimnis im Schiedsverfahren und seien eine Gefahr sowohl für die Integrität des Schiedsverfahrens wie für die Unabhängigkeit der Schiedsrichter (siehe zum Thema zuletzt Escher, SchiedsVZ 2018, 219 mit ersten Ergebnissen einer Befragung von Schiedsrichtern zur Praxis der dissenting opinion).
Soweit ersichtlich, hat sich nunmehr mit dem Oberlandesgericht Frankfurt erstmals ein Gericht zu dieser Frage geäußert und die Auffassung vertreten, dass die Veröffentlichung eines Sondervotums durch den überstimmten Schiedsrichter gegen den verfahrensrechtlichen ordre public verstoße, mithin einen Grund zur Aufhebung des Schiedsspruchs nach § 1059 Abs. 2 Nr. 2 lit. b ZPO darstelle.
Sachverhalt
Die Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt ist selbstverständlich anonymisiert. Der Sachverhalt ist allerdings hinreichend detailliert geschildert, so dass es nach einem Abgleich mit Presseberichten – denen auch die Besetzung des Schiedsgerichts entnommen werden kann – als relativ sicher angenommen werden darf, dass es sich um das prominente Agfa-Schiedsverfahren handelt:
Das belgische Agfa Gevaert gliederte Ende 2005 seinen Consumerphoto-Geschäftsbereich aus und verkaufte ihn als Agfa Photo an eine Gruppe von Investoren. Bereits ein halbes Jahr später fiel Agfa Photo in die Insolvenz. Der Schiedsspruch steht in einer Reihe von zeitweise mehr als zehn parallel anhängigen Schieds- und Gerichtsverfahren, die der Insolvenzverwalter und die damaligen Investoren seit Ende 2005 gegen Agfa Gevaert führten. In dem hier streitgegenständlichen Schiedsverfahren hatte der Insolvenzverwalter zuletzt Schadensersatz in Höhe von mehr als 410 Millionen Euro gefordert.
Nach dem Scheitern von Vergleichsgesprächen der Parteien leitete der Insolvenzverwalter am 20. Dezember 2007 ein ICC-Schiedsverfahren ein. Schiedsort war Frankfurt am Main mit der Folge, dass es sich um einen inländischen Schiedsspruch handelt und das Oberlandesgericht Frankfurt zuständig ist. Der Tatbestand des Beschlusses zeichnet das langwierige und hart umkämpfte Schiedsverfahren nach, das erst mehr als 10 Jahre später mit einem von allen Schiedsrichtern unterschriebenen Endschiedsspruch vom 31. Mai 2018 sein – vorläufiges – Ende fand; dieser Schiedsspruch wies die Schiedsklage ab. Der Schiedsrichter B. legte darüber hinaus eine auf den 01 Juni 2018 datierte dissenting opinion vor, mit der er sich insbesondere gegen ein Sachverständigengutachten und dessen Würdigung durch das Schiedsgerichts wandte.
Entscheidung
Das Oberlandesgericht Frankfurt kam zum Ergebnis, der Schiedsspruch sei bereits wegen eines Verstoßes gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs aufzuheben. Das Schiedsgericht habe das rechtliche Gehör des Schiedsklägers verletzt, weil es dessen Vortrag im Schiedsspruch zwar zur Kenntnis genommen und wiedergegeben, aber nicht zum Gegenstand einer inhaltlichen Würdigung macht habe.
Daher könne offenbleiben, ob ein weiterer Aufhebungsgrund nach § 1059 Abs. 2 Nr. 2 b) ZPO wegen eines ordre public-Verstoßes deshalb in Betracht komme, weil einer der Schiedsrichter in einer dissenting opinion seine von der Mehrheit des Schiedsgerichts abweichende Meinung offengelegt hatte. Dazu führt das Gericht in einem obiter dictum aus:
„Es spricht allerdings nach Würdigung des Senats vieles dafür, dass die Offenlegung einer Dissenting Opinion auch unter Berücksichtigung der Erwägungen, mit denen der Gesetzgeber von einer diesbezüglichen Regelung abgesehen hat (vgl. BT-Drucksache 13/5274, S. 56, zu § 1054 ZPO), in inländischen Schiedsverfahren unzulässig ist und gegen das für inländische Schiedsgerichte geltende Beratungsgeheimnis (…) verstößt. Die besondere Bedeutung des Beratungsgeheimnisses für den Schutz der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Schiedsrichter dürfte es überdies auch nahelegen, das Beratungsgeheimnis – auch nach abschließender Beratung und Erlass des Schiedsspruchs – nicht zur Disposition der Parteien und/oder der Schiedsrichter zu stellen und als Bestandteil des verfahrensrechtlichen ordre public anzusehen.“ (Rdnr. 226)
Anmerkung
Die vom Senat in Bezug genommene Passage aus der Gesetzesbegründung zum Entwurf des Schiedsverfahrens-Neuregelungsgesetzes vom 12. Juli 1997 (BT-Drucksache 13/5274, S. 56) lautet:
„Die (…) Frage, ob dem Schiedsspruch ein Sondervotum („dissenting opinion“) beigefügt werden kann, bedurfte keiner ausdrücklichen Regelung; für das geltende Recht wird dies überwiegend als zulässig erachtet. (vgl. Schlosser, Internationale private Schiedsgerichtsbarkeit, 2. Aufl., Rn. 691; Calavros, a. a. O., S. 139).“
Angesichts dieser klaren Position des historischen Gesetzgebers überrascht die Auffassung des Oberlandesgerichts, auch wenn man ihm zugutehalten muss, dass es seine Meinung gewiss ausführlich begründet hätte, wenn es sich um die tragende Erwägung gehandelt hätte.
Selbst Kritiker der dissenting opinion stellen es zudem den Schiedsparteien anheim, im Rahmen der Parteiautonomie abweichende Regelungen zu treffen: „Das Problem der dissenting opinion liegt in dem auch für Schiedsgerichte geltenden Beratungsgeheimnis. Durch die dissenting opinion wird dieses verletzt. (…) Die Parteien können jedoch vom Beratungsgeheimnis entbinden und damit den Weg für eine dissenting opinion ebnen.“ (Schütze, SchiedsVZ 2008, S. 10, 13 f.; ebenso Zöller/Geimer, ZPO, 33. Aufl., 2019, § 1052, Rdnr. 5: „Eine Dissenting Opinion ist nur bei ausdrücklicher Gestattung in der Verfahrensvereinbarung der Parteien bzw. in der Verfahrensanordnung nach § 1066 zulässig.“)
Da es sich um ein ICC-Schiedsverfahren handelte, spräche in diesem Verfahren einiges dafür, eine solche Parteivereinbarung schon deswegen anzunehmen, weil die ICC dissenting opinions grundsätzlich für zulässig hält; sie sind, wie der Schiedsspruch, dem ICC Court of Arbitration im Entwurf zur Überprüfung nach Art. 34 ICC-SchiedsO vorzulegen. Aber das Oberlandesgericht Frankfurt ist auch in dieser Hinsicht äußerst strikt: Das Beratungsgeheimnis stehe nicht zur Disposition der Parteien, so dass auch eine Verfahrensvereinbarung der Parteien zur Zulässigkeit von Sondervoten den Schiedsspruch nicht vor der Aufhebung schützen würde, wenn er denn aus anderen Gründen angegriffen und zur Überprüfung durch das Gericht gestellt würde.
Die Ansicht des Oberlandesgerichts Frankfurt wirft eine Reihe von Folgeproblemen auf: Man könnte daran denken, dass eine parteiische überstimmte Schiedsrichterin durch die Veröffentlichung ihrer dissenting opinion den für „ihre“ Partei ungünstigen Schiedsspruch gezielt zu Fall bringen möchte. Das führt zur Folgefrage, ob sie zumindest für die Kosten des damit hinfällig gewordenen Schiedsverfahrens haftet, wenn sie bewusst die ordre public-Widrigkeit des Schiedsspruchs herbeiführt. Zum anderen fragt sich, ob die Parteien Vorsorge treffen können. zum Beispiel mit einer ausdrücklichen Parteivereinbarung, die dem Schiedsgericht Minderheitsvoten verbietet.
Nach der bisherigen Verfahrensgeschichte ist davon auszugehen, dass der Bundesgerichtshof in diesem Verfahren das letzte Wort haben wird. Es bleibt abzuwarten, ob er die Gelegenheit nutzt sich zur dissenting opinion zu äußern. Bis dahin sollten sich die Beteiligten an internationalen Schiedsverfahren mit Sitz in Deutschland, auf jeden Fall aber bei solchen mit Sitz in Frankfurt am Main, der Risiken bewusst sein, die mit einer dissenting opinion einhergehen.
tl;dr: Es spricht viel dafür, dass die Offenlegung einer Dissenting Opinion in inländischen Schiedsverfahren unzulässig ist und gegen das für inländische Schiedsgerichte geltende Beratungsgeheimnis verstößt, so dass hierin ein Aufhebungsgrund nach § 1059 Abs. 2 Nr. 2 b) ZPO wegen eines ordre public-Verstoßes zu sehen ist.
Anmerkung/Besprechung, OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 16. Januar 2020 – 26 Sch 14/18
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