7. Juni 2023
Die allgemeinen Product Compliance-Regularien stehen vor der größten Reform seit es den New Legislative Framework (NLF) gibt. Der EU-Gesetzgeber ersetzt die in die Jahre gekommenen allgemeine Produktsicherheitsrichtlinie (RL 2001/95/EG) durch eine unmittelbar anwendbare Verordnung. Mit der umfassenden Modernisierung in der EU-Produktsicherheitsverordnung (VO (EU) 2023/988, die General Product Safety Regulation – „GPSR“) versucht der europäische Gesetzgeber, der Digitalisierung von Produkten und den Herausforderungen neuer Geschäftsmodelle gerecht zu werden.
Die GPSR betrifft insbesondere alle in der EU tätigen Wirtschaftsakteure und Betreiber von Online-Marktplätzen mit Verbraucherprodukten im Portfolio, die sich auf umfassende Änderungen im allgemeinen Produktsicherheitsrecht einzustellen haben. Aber auch darüber hinaus wird die GPSR – wie schon ihre Vorgängerin – die allgemeine produktrechtliche Diskussion stark prägen und sicherlich auch in den Bereich der b2b-Produkte hineinwirken.
Die neue Produktsicherheitsverordnung tritt am 12. Juni 2023 in Kraft und gilt ab dem 13. Dezember 2024. Die 18monatige Übergangsfrist ist knapp bemessen, denn als europäische Verordnung gilt die GPSR unmittelbar in jedem Mitgliedsstaat der Europäischen Union, ohne dass es hierfür der innerstaatlichen Umsetzung bedarf.
Unmittelbar betroffen sind alle in der EU tätige Wirtschaftsakteure, d.h. Hersteller, Bevollmächtigte, Einführer, Händler oder jede andere Person, die Verpflichtungen im Zusammenhang mit der Herstellung von Produkten, deren Bereitstellung auf dem Markt oder deren Inbetriebnahme gemäß den einschlägigen Rechtsvorschriften unterliegt. Damit fallen nun auch Fulfillment-Dienstleister i.S.d. Art. 3 Nr. 12 GPSR und Anbieter von Online-Marktplätzen, welchen gem. Art. 22 GPSR Pflichten i.S.d. Art. 3 Nr. 14 GPSR auferlegt werden, darunter. Insofern wurde der persönliche Anwendungsbereich der Verordnung um Fulfillment-Dienstleister und Anbieter von Online-Marktplätzen erweitert, welche künftig in sicherheitsrechtliche Pflichten genommen werden.
Die Produktsicherheitsverordnung gilt für alle Verbraucherprodukte insoweit, als es keine spezifischen unionsrechtlichen Bestimmungen über die Sicherheit der betreffenden Produkte gibt, die dasselbe Ziel verfolgen. Verbraucherprodukte sind auch weiterhin die Produkte, die zwar nicht für Verbraucher bestimmt sind, aber „unter vernünftigerweise vorhersehbaren Bedingungen wahrscheinlich von Verbrauchern benutzt“ werden, Art. 3 Nr. 1 GPSR.
Weiterhin offen bleibt die Frage, inwiefern auch „Stand-alone“-Software ein Produkt im Sinne der GSPR sein soll. Hinsichtlich ihrer inhaltlichen Anforderungen an die Produkte betrifft die Verordnung primär nicht-harmonisierte Produkte. Der europäische Gesetzgeber behält die mit der Produktsicherheitsrichtlinie geschaffene Einteilung in allgemeine und (produktspezifische) besondere Product Compliance bei. Einige der besonders prägenden Neuregelungen – etwa das Recht auf Abhilfe – gelten aber auch für harmonisierte Produkte. Folgende Bestimmungen gelten auch für spezifisch harmonisierte Produkte:
Regelung |
Inhalt |
Kapitel III, Abschnitt 2 | Pflichten der Wirtschaftsakteure im Fernabsatz, bei Unfällen, die im Zusammenhang mit der Sicherheit von Produkten auftreten und die Möglichkeit (Produkt-)Informationen in elektronischer Form zur Verfügung zu stellen |
Kapitel IV | Pflichten der Anbieter von Online-Marktplätzen |
Kapitel VI |
Safety Gate und Safety-Business-Gateway |
Kapitel VIII |
Recht auf Auskunft und Abhilfe |
Wir stellen im Folgenden einige der wesentlichen Änderungen durch die GPSR dar.
Weitere, zusätzliche „Player“ im produktrechtlichen Kontext werden adressiert. Hinzutreten als Wirtschaftsakteur der Fulfillment-Dienstleister (Art. 3 Nr. 12 GPSR) sowie als Akteur sui generis der Anbieter eines Online-Marktplätzen, Art. 3 Nr. 14 GPSR.
Der Zeitpunkt, ab dem die Pflichten aus der GPSR greifen, wird insbesondere im Fernabsatz erheblich vorverlagert. Die Produktsicherheitsverordnung gilt ab dem Zeitpunkt des Inverkehrbringens. Die sich – etwa mit der Marktüberwachungsverordnung (VO (EU) 2019/1020) – abzeichnende Tendenz des EU-Gesetzgebers, das Inverkehrbringen zeitlich vorzulagern, setzt sich in der GPSR fort. Ein Produkt gilt als (erstmalig) auf dem Markt bereitgestellt und damit in Verkehr gebracht, wenn es Verbrauchern online oder über eine andere Form des Fernabsatzes zum Verkauf angeboten wird (Art. 4 GPSR). Dies ist dann der Fall, wenn die sich die Tätigkeit auf einen oder mehrere Mitgliedsstaaten ausrichtet, wobei der Zahlungsverkehr in Euro oder die europäische Angebotssprache als Indizien heranzuziehen sind.
Mit der Vorverlagerung des Anwendungsbereichs im Online-Handel gehen besondere Pflichten für Wirtschaftsakteure und Anbieter von Online-Marktplätzen einher:
Wirtschaftsakteure müssen bereits beim Angebot eines Produktes folgende Informationen geben (vgl. Art. 19 GPSR):
Als neue Pflichtenadressaten müssen Anbieter von Online-Marktplätzen ein ganzes Bündel an produktsicherheitsrechtlichen Pflichten erfüllen, die auch in engem Zusammenhang mit dem Digital Service Act (VO (EU) 2022/2065) stehen (vgl. Art. 22 GPSR). Die Pflichten im Überblick (im Beitrag von Spiegel, in ZVertriebsR 2023, 71 – 80 findet sich eine detailliertere Analyse der Pflichten):
Wenig überraschend dürfen Wirtschaftsakteure auch weiterhin nur sichere Produkte auf dem Markt bereitstellen. Die Bewertungskriterien, nach denen zu beurteilen ist, ob ein Produkt sicher ist, werden durch die in der GPSR genannten Beurteilungskriterien ausgeweitet und verschärft (vgl. Art. 6 GPSR). Insbesondere neu tritt hinzu, dass ausdrücklich zu bewerten ist, wie andere Produkte auf das zu bewertende Produkt wirken und ob hier sicherheitsrelevante Eigenschaften beeinflusst werden. In die Bewertung einfließen muss auch für welche Verbraucherkategorien das Produkt bestimmt ist: So gilt es das Risiko für Kinder, ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen abzuschätzen. Zu berücksichtigen ist auch das Erscheinungsbild des Produkts, wenn es den Verbraucher dazu verleiten kann, das Produkt in einer anderen Weise als derjenigen zu verwenden, für die es bestimmt war (etwa ein Produkt das aussieht wie ein Lebensmittel, ohne ein Lebensmittel zu sein). Auch Cybersicherheitsaspekte und sich entwickelnde, lernende und prädikative Funktionen des Produkts sind zu bewerten.
Anders als noch im Kommissionsentwurf, bleibt das Beurteilungskriterium der missbräuchlichen Verwendung im Rahmen der Bewertung der Sicherheit von Produkten außer Betracht. Das ist zu begrüßen.
Bereits bekannt ist das Konzept der wesentlichen Veränderung schon länger. Die GPSR kodifiziert es nun. Wer ein Produkts – sei es physisch oder digital – wesentlich ändert, ist Hersteller, vgl. Art. 13 Abs .2 GPSR.
Eine wesentliche Produktänderung liegt insbesondere dann vor, wenn sie sich auf die Produktsicherheit auswirkt und:
Das System der Produktrückrufe wird (noch) komplexer. Alle betroffenen Verbraucher sind von den Wirtschaftsakteuren und Anbietern von Online-Marktplätzen über Produktsicherheitsrückrufe oder Sicherheitswarnungen direkt und unverzüglich zu informieren. Neben Produktregistrierungssystemen oder Kundenbindungsprogrammen ist zur Kontaktermittlung auch auf erhobene personenbezogene Daten zurückzugreifen, Art. 35 Abs. 1 GPSR. Können nicht alle betroffenen Verbraucher kontaktier werden, müssen Wirtschaftsakteure alle verfügbaren Informationskanäle, inklusive der sozialen Medien, nutzen. „Traceability“ ist der Weg der Wahl, medienwirksame Rückrufe – gerade in sozialen Netzwerken – gilt es zu vermeiden.
Art. 36 Abs. 2 GPSR präzisiert die Anforderungen an die Durchführung eines Produktsicherheitsrückrufs. Die GPSR beauftragt die Kommission, im Wege eines Durchführungsrechtsaktes ein Formblatt für eine sog. Rückrufanzeige zu entwerfe. Die Rückrufanzeige wird insbesondere:
Auf verharmlosende Elemente hingegen, wie „freiwillig“, „vorsorglich“, „im Ermessen“, „in seltenen/spezifischen Situationen“ sowie der Hinweis, dass bislang noch keine Unfälle gemeldet wurden, darf im Rahmen der Formulierung nicht zurückgegriffen werden. Inwiefern das zu erstellende Formblatt wirklich hilfreich sein wird, oder wie das Muster-Widerrufsformular eher zu Verwirrung beiträgt, bleibt abzuwarten.
Art. 37 GPSR nimmt den für den Produktsicherheitsrückruf verantwortlichen Wirtschaftsakteur in die regulatorische Pflicht, Abhilfemaßnahmen anzubieten. Konkret muss der verantwortliche Wirtschaftsakteur dem Verbraucher die Wahl zwischen zwei der folgenden Abhilfemaßnahmen bieten (vgl. Art. 37 Abs. 2 GPSR): die Reparatur des zurückgerufenen Produktes, dessen Ersatz durch ein sicheres Produkt desselben Typs mit mindestens demselben Wert und derselben Qualität oder die Erstattung seines Wertes, sofern der Erstattungsbetrag mindestens dem vom Verbraucher gezahlten Preis entspricht. Die Abhilfemaßnahme darf keine erheblichen Unannehmlichkeiten für den Verbraucher mit sich bringen, lässt die zivilrechtlichen Ansprüche des Verbrauchers unberührt und muss im Ganzen kostenfrei für den Verbraucher sein, sodass auch keine Versandgebühren von diesem zu tragen sind, Art. 37 Abs. 5 GPSR.
Mit der Einführung eines produktsicherheitsrechtlichen Abhilferechts betritt der EU-Gesetzgeber Neuland. Viel kritisiert wurde die Durchbrechung von sog. Integritäts- und Äquivalenzinteresse. Während das Produktsicherheitsrecht bisher nur die Integrität (Leib, Leben, andere Sachwerte) schützen sollte, gewährt es betroffenen Verbrauchern nun die Möglichkeit auch hinsichtlich des unsicheren Produkts selbst Ersatz zu bekommen. Versicherer dürften dies im Rahmen ihrer Rückrufkostenversicherungen einpreisen.
Betroffenen ist zu empfehlen, sich bereits jetzt auf die neuen produktsicherheitsrechtlichen Regelungen einzustellen und ihr Geschäftsmodell im Hinblick auf die neuen Anforderungen aus der GPSR zu bewerten. Interne Prozesse (vgl. nur den verpflichtend vorzuhaltenden „Product Compliance Process“ in Art. 14 GSPR) bedürfen der (ggf. zeitintensiven) Umsetzung.