Autor

Tobias Kraut

Senior Associate

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24. Juni 2020

Virtuelle Hauptversammlung: Aktionärsrechte in der Versammlungspraxis der DAX-Unternehmen

Nachdem der Gesetzgeber am 27. März 2020 das Gesetz über Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins-, Stiftungs- und Wohnungseigentumsrecht zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie[1] („COVID-19-Gesetz“) verabschiedet hat, haben zahlreiche Gesellschaften von der durch § 1 Abs. 2 COVID-19-Gesetz eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht, eine rein virtuelle Hauptversammlung ohne physische Präsenz der Aktionäre oder ihrer Bevollmächtigten abzuhalten (zum Gesetz im Einzelnen siehe: Beyer/Klabunde, Corona-Pandemie: Gesetz zur virtuellen Hauptversammlung). Bis Mitte Juni 2020 (Stand: 14.06.2020) haben rund zwei Drittel (21) der im DAX notierten Unternehmen eine virtuelle ordentliche oder außerordentliche Hauptversammlung einberufen. Dabei wurde das Instrumentarium der virtuellen Versammlung nicht nur genutzt, um gesetzlich erforderliche Beschlüsse zu fassen, etwa über die Verwendung des Bilanzgewinns, die Wahl von Aufsichtsrat oder Abschlussprüfer oder die Entlastung der Verwaltung, sondern auch für komplexere und gegebenenfalls konfliktträchtigere Umstrukturierungen.

Ein Blick auf die bisherige Versammlungspraxis der DAX-Unternehmen zeigt dabei eine unterschiedlich weitgehende Gewährung von Aktionärsrechten infolge der vom Gesetz eingeräumten Ermessensentscheidungen oder von Interpretationsspielräumen.

Diesbezüglich sollen im Folgenden die Lösungsansätze der DAX-Unternehmen in Bezug auf

  • das Zugänglichmachen von Gegenanträgen und Wahlvorschlägen sowie deren Behandlung in der Hauptversammlung,
  • das Recht und die Frist zur Übermittlung von Fragen sowie
  • der Kreis der widerspruchsberechtigten Aktionäre

in den Blick genommen werden.

Das Recht, Gegenanträge und Wahlvorschläge zu übersenden sowie deren Behandlung in der virtuellen Hauptversammlung

Das COVID-19-Gesetz wirft Fragen auf, ob die Gesellschaften den Aktionären die Rechte nach §§ 126 Abs. 1, 127 AktG zur Übersendung und Veröffentlichung von Gegenanträgen und Wahlvorschlägen (zur besseren Lesbarkeit im Folgenden einheitlich als „Gegenanträge“ bezeichnet) im Rahmen von virtuellen Hauptversammlungen gewähren müssen und ob bzw. wie, im gegebenen Fall, die Gegenanträge in der Hauptversammlung zu behandeln sind.

Recht zur Übersendung von Gegenanträgen und Wahlvorschlägen und deren Zugänglichmachung

Im COVID-19-Gesetz ist nicht geregelt, ob eine elektronische Übersendung von Gegenanträgen nach §§ 126, 127 AktG ermöglicht werden muss und ob die Gesellschaft die entsprechenden Anträge sodann Intermediären, Aktionären und Aktionärsvereinigungen zugänglich machen muss.

In Ermangelung einer speziellen Regelung im COVID-19-Gesetz könnte grundsätzlich anzunehmen sein, dass die §§ 126, 127 AktG Anwendung finden. Ausgehend von der Überlegung, dass Gegenanträge jedoch nur wirksam in der Hauptversammlung gestellt werden können und die §§ 126, 127 AktG lediglich deren Ankündigung und Zugänglichmachung betreffen, eine wirksame Antragstellung im Rahmen einer nicht interaktiv durchgeführten virtuellen Hauptversammlung jedoch ausscheidet, könnte zu folgern sein, dass eine Ankündigung von Gegenanträgen ebenfalls nicht ermöglicht werden muss.

Die Versammlungspraxis der DAX-Unternehmen bis Mitte Juni 2020 zeigt sich hinsichtlich der Möglichkeit zur Übersendung und Zugänglichmachung der Anträge jedoch einheitlich aktionärsfreundlich. Obwohl sämtliche Unternehmen zu einer virtuellen Hauptversammlung ohne interaktive Mitwirkungsmöglichkeiten eingeladen haben (elektronische Teilnahme ohne Antragsrechte in einem Fall bzw. Briefwahl in allen anderen Fällen, jeweils ergänzt durch Vollmachtstimmrecht), gewähren die Gesellschaften ihren Aktionären das Recht zur Übersendung von Gegenanträgen nach §§ 126, 127 AktG und veröffentlichen diese anschließend.

In den Einberufungen zur virtuellen Hauptversammlung lässt sich diesbezüglich regelmäßig folgende Formulierung finden:

„Die Rechte der Aktionäre, Anträge und Wahlvorschläge zu Punkten der Tagesordnung sowie zur Geschäftsordnung zu stellen, sind entsprechend der gesetzlichen Konzeption des COVID-19-Gesetzes im Rahmen der diesjährigen virtuellen Hauptversammlung ausgeschlossen. Gleichwohl wird den Aktionären die Möglichkeit eingeräumt, in entsprechender Anwendung der §§ 126, 127 AktG Gegenanträge sowie Wahlvorschläge im Vorfeld der Hauptversammlung zu übermitteln.“

Dem folgt üblicherweise der Hinweis, dass die Gesellschaft entsprechende – fristgerecht übersendete – Gegenanträge auf der Internetseite zugänglich machen wird.

Die Behandlung von Gegenanträgen und Wahlvorschlägen in der Hauptversammlung

Im Hinblick auf die Behandlung von Gegenanträgen in der virtuellen Hauptversammlung haben sich demgegenüber unterschiedliche Herangehensweisen herausgebildet.

a) Ausdrücklicher Hinweis auf die Nichtbehandlung in der Hauptversammlung

In den Einberufungen der DAX-Unternehmen bis Mitte Juni 2020 lässt sich am häufigsten der Ansatz finden, die zugänglich gemachten Gegenanträge in der Hauptversammlung schlicht nicht zu behandeln. In rund 43% der Einberufungen wiesen die DAX-Unternehmen ausdrücklich darauf hin, dass „entsprechende Gegenanträge und Wahlvorschläge in der Hauptversammlung allerdings in Übereinstimmung mit der Konzeption des COVID-19-Gesetzes nicht zur Abstimmung gestellt und auch nicht anderweitig behandelt“ werden.

Diese Nichtbehandlung führt zu einer Beschränkung der Rechte der Aktionäre aus §§ 126, 127 AktG, sie dürfte aber im Einklang mit dem COVID-19-Gesetz stehen, in dessen Begründung hierzu ausgeführt wird, dass alle Antragsrechte „in“ der Versammlung wegfallen, wenn die Versammlung nur mit Briefwahl und Vollmachtstimmrecht durchgeführt wird. Übersendung und Zugänglichmachung von Anträgen im Vorfeld der Versammlung dienen bei dieser Herangehensweise lediglich dazu, die übrigen Aktionäre darüber in Kenntnis zu setzen, dass Gegenansichten zum Vorschlag der Verwaltung bestehen und eröffnen so die Möglichkeit auf die Meinungsbildung anderer Aktionäre einzuwirken.

b) Nichtbehandlung in der Hauptversammlung ohne ausdrücklichen Hinweis

Demgegenüber lässt sich rund 28% der Einberufungen kein ausdrücklicher Hinweis auf die Behandlung der Gegenanträge in der Versammlung entnehmen. Die Gesellschaften nehmen in diesem Fall keine Ausführungen vor, die über die unter 1.1 wiedergegebene Formulierung („Die Rechte der Aktionäre, Anträge und Wahlvorschläge zu Punkten der Tagesordnung sowie zur Geschäftsordnung zu stellen, sind […] ausgeschlossen“) hinausgehen. Soweit die entsprechenden Versammlungen bereits stattgefunden haben, wurden die übermittelten Gegenanträge in diesen Fällen nicht zur Abstimmung gestellt.

c) Berücksichtigung aufgrund einer fingierten Antragsstellung

Einen aktionärsfreundlicheren Ansatz verfolgen weitere rund 28% der DAX-Unternehmen, indem sie Gegenanträge als in der Hauptversammlung gestellt fingieren, sofern diese Anträge zuvor ordnungsgemäß übermittelt wurden und der antragstellende Aktionär zur Hauptversammlung angemeldet ist. In den Einladungen findet sich in diesem Fall der Hinweis, dass „Gegenanträge oder Wahlvorschläge in der virtuellen Hauptversammlung so behandelt werden, als seien sie in der Hauptversammlung gestellt worden, sofern der antragstellende Aktionär ordnungsgemäß angemeldet ist und den Nachweis seines Anteilsbesitzes erbracht hat“.

Das Recht und die Frist zur Übermittlung von Fragen

Das gesetzliche Auskunftsrecht der Aktionäre nach § 131 AktG ist in der virtuellen Hauptversammlung ausgeschlossen. Das nach § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 COVID-19-Gesetz zu gewährende Fragerecht lässt dem Rechtsanwender einen Ermessensspielraum hinsichtlich des Kreises der Frageberechtigten sowie der Berechnung der Zwei-Tages-Frist (§ 1 Abs. 2 Satz 2 Hs. 2 COVID-19-Gesetz).

a) Anmeldung zur Versammlung als Voraussetzung zur Ausübung des Fragerechts?

Das COVID-19-Gesetz enthält bewusst keine Regelung zur Frage, ob das Fragerecht nur den zur Hauptversammlung angemeldeten Aktionären zustehen soll oder aber allen Aktionären einzuräumen ist. Ausweislich der Gesetzesbegründung ist es der Verwaltung der Gesellschaften überlassen, ob sie die Fragemöglichkeit auf angemeldete Aktionäre beschränken. In der Praxis der DAX-Unternehmen lassen sich beide Ansätze finden:

Weit überwiegend wird die Ausübung des Fragerechts von einer Anmeldung zur Hauptversammlung abhängig gemacht und nach erfolgter Anmeldung eine Möglichkeit zur Einreichung von Fragen über den Online-HV-Service eingeräumt.

Nur in einigen Ausnahmefällen eröffnen die DAX-Unternehmen allen Aktionären – unabhängig von einer Anmeldung zur Versammlung – das Recht, Fragen einzureichen, etwa durch Eingabe ihrer Aktionärsnummer und einer dazugehörigen persönlichen Identifikationsnummer, die bereits mit der Einladung zur Hauptversammlung versandt wurde.

Festzustellen ist jedenfalls, dass die in der Gesetzesbegründung – aus guten Gründen – für möglich gehaltene „Flut von Fragen“ soweit ersichtlich (noch) nicht beklagt wurde.

b) Frist zur Einreichung der Fragen

Einheitlich zeigt sich zudem die Einberufungspraxis der DAX-Unternehmen in Bezug auf die durch § 1 Abs. 2 Satz 2 Hs. 2 COVID-19-Gesetz gewährte Möglichkeit, für die Einreichung von Fragen eine Frist „bis spätestens zwei Tage vor der Versammlung“ vorzusehen. Sämtliche DAX-Unternehmen haben in den bis Mitte Juni 2020 veröffentlichten Einberufungen die Übermittlung von Fragen an die Zwei-Tages-Frist geknüpft.

Indessen wurde die Berechnung der Frist nicht einheitlich vorgenommen. Dies ist auf eine unterschiedliche Auslegung der gesetzlichen Vorgabe zurückzuführen, da es an einer im Aktienrecht üblichen Regelung fehlt, nach der der Tag des Ereignisses, hier der Einreichung der Frage, bei der Berechnung der Frist nicht mitzuzählen ist.

Die überwiegende Zahl der DAX-Unternehmen verlangt, im Einklang mit der bisherigen aktienrechtlichen Systematik, die Übermittlung der Fragen bis zum Ablauf des dritten Tages vor der Hauptversammlung, so dass zwei volle Tage zwischen Fristende und Hauptversammlung liegen.

Im Interesse der Aktionäre oder aus Gründen der Rechtssicherheit haben einige DAX-Unternehmen diese Frist jedoch kürzer ausgelegt und den Aktionären die Möglichkeit zur Einreichung von Fragen bis 12 Uhr mittags am zweiten Tag vor der Hauptversammlung gestattet bzw. genau 48 Stunden vor Beginn der Hauptversammlung, so dass lediglich ein voller Tag zwischen Fristende und Hauptversammlung lag.

Im Gegensatz zur Frist nach dem COVID-19-Gesetz konnte sich die in der Gesetzesbegründung geäußerte Option, häufig gestellte Fragen durch die Nutzung eines FAQ-Katalogs vorab auf der Website zu beantworten, in der bisherigen Praxis nicht durchsetzen. Soweit die Gesellschaften FAQs zur virtuellen Hauptversammlung zur Verfügung stellen, greifen diese keine die Geschäftstätigkeit des spezifischen Unternehmens oder einzelne Tagesordnungspunkte betreffende Fragen auf (mit Ausnahme der Höhe der Dividende), sondern behandeln lediglich allgemeine Verfahrenshinweise, etwa wie Aktionäre die virtuelle Hauptversammlung verfolgen können oder bis wann Aktien erworben werden können, um dividendenberechtigt zu sein.

Der Kreis der widerspruchsberechtigten Aktionäre

Abschließend soll die Versammlungspraxis der DAX-Unternehmen im Hinblick auf den Kreis der widerspruchsberechtigten Aktionäre in den Blick genommen werden.

Das Widerspruchsrecht im Rahmen von virtuellen Hauptversammlungen nach § 1 Abs. 2 Nr. 4 COVID-19-Gesetz unterscheidet sich von der Regelung in § 245 Nr. 1 AktG insoweit, als die Erklärung eines Widerspruchs nun die Ausübung des Stimmrechts voraussetzt.

Im Einklang mit der gesetzgeberischen Wertung knüpfen denn auch nahezu alle DAX-Unternehmen, die bis Mitte Juni 2020 zu virtuellen Hauptversammlungen geladen haben, das Widerspruchsrecht an die Ausübung des Stimmrechts. In den Erläuterungen zum Widerspruchsrecht beschränken sich die Unternehmen insoweit auf eine Wiedergabe des Gesetzeswortlauts und einen Hinweis, dass der Widerspruch über den Online-Service bis zur Beendigung der Hauptversammlung erklärt werden kann.

Abweichend von dieser Einberufungspraxis gewähren zwei Gesellschaften einem größeren Kreis ihrer Aktionäre die Möglichkeit zum Widerspruch. Hierbei gestattet eines der Unternehmen allen Aktionären, die im Aktienregister der Gesellschaft eingetragen und rechtzeitig angemeldet sind, Widerspruch zu erklären. Eine zweite Gesellschaft gehört dem kleinen Kreis der DAX-Unternehmen an, die auch Vorzugsaktien ausgegeben haben. Diese gewährt das Widerspruchsrecht auch ihren Vorzugsaktionären und formuliert:            

„Stamm- und Vorzugsaktionäre beziehungsweise ihre Bevollmächtigten haben […] – in Abweichung von § 245 Nr. 1 AktG unter Verzicht auf das Erfordernis des Erscheinens in der Hauptversammlung – die Möglichkeit, Widerspruch gegen einen oder mehrere Beschlüsse der Hauptversammlung im Wege elektronischer Kommunikation einzulegen.“

Die Gewährung des Widerspruchsrechts auch für Vorzugsaktionäre erscheint nach dem COVID-19-Gesetz jedoch keineswegs erforderlich. Zwar finden Vorzugsaktionäre im Gesetz keine Erwähnung, der Wortlaut legt indes nahe, dass Vorzugsaktionäre – mangels Existenz eines Stimmrechts – kein Widerspruchsrecht haben.

Fazit

Die vom Gesetzgeber geschaffene Möglichkeit zur Durchführung einer virtuellen Hauptversammlung trifft in der Versammlungspraxis der DAX-Unternehmen auf breite Akzeptanz. Das Gesetz eröffnet den Gesellschaften hierbei unterschiedlichste Formate, wobei in der Versammlungspraxis der DAX-Unternehmen weit überwiegend sehr schlanke Varianten gewählt werden, die den Aktionären lediglich das gesetzliche Mindestmaß an versammlungsbezogener Rechteausübung ermöglichen. Nur vereinzelt gewähren die Gesellschaften ihren Aktionären über die gesetzlichen Mindestvorgaben hinausgehende Rechte. Soweit das Gesetz Ermessen einräumt oder infolge von Unklarheiten unterschiedliche Auslegungen ermöglicht, haben sich weitgehend einheitliche Standards entwickelt. Die offenen Rechtsfragen wurden insoweit von der Praxis aufgenommen. Insbesondere im Hinblick auf die Behandlung von Gegenanträgen zeigt die Versammlungspraxis jedoch noch ein recht uneinheitliches Bild. Es bleibt spannend zu sehen, welchen Einfluss die Erkenntnisse aus der Versammlungspraxis unter dem COVID-19-Gesetz auf die weitere rechtliche Ausgestaltung der virtuellen Hauptversammlung haben werden.

 

[1] Art. 2 des Gesetzes zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht.

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