15. Februar 2019

BVerfG: Das Ende der Schubladenverfügung?

Einstweilige Verfügung ohne Abmahnung und Anhörung ist verfassungswidrig. Zugleich Leitlinien zur Entscheidung ohne mündliche Verhandlung im einstweiligen Verfügungsverfahren

I. Hintergrund der Verfahren

Den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 30.09.2018 (1 BvR 1783/17 und 1 BvR 2421/17) liegen jeweils Verfügungsverfahren vor den Landgerichten Köln bzw. Hamburg zu Grunde, in denen die Antragsteller den Erlass einer presserechtlichen Unterlassungsverfügung bzw. einer Gegendarstellung beantragten. Die Gerichte erließen jeweils auf Antrag entsprechende Verfügungen ohne mündliche Verhandlung und ohne, dass die Antragsgegner im Wege der vorherigen Abmahnung Kenntnis von den drohenden Verfahren erlangt hätten. Die Beschwerdeführerinnen erhoben jeweils Verfassungsbeschwerde und rügten die Verletzung ihrer grundrechtsgleichen Rechte auf rechtliches Gehör und prozessuale Waffengleichheit.

Auch wenn den Entscheidungen des BVerfG presserechtliche Verfügungen zu Grunde lagen, müssen die Anforderungen, die das BVerfG für das Beschlussverfahren ohne Anhörung des Antragsgegners aufstellt, im Sinne eines Erst-Recht-Schlusses auf die in der Regel weniger eiligen Verfügungsverfahren des gewerblichen Rechtsschutzes und Urheberrechts entsprechend angewendet werden.

II. Die Entscheidung

Das BVerfG hat jeweils einen Eingriff in das grundrechtsgleiche Recht der Beschwerdeführerinnen auf prozessuale Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG bejaht. Die Gleichwertigkeit der prozessualen Stellung der Parteien sei insbesondere dann nicht mehr gewährleistet, wenn der Erlass einer einstweiligen Verfügung nicht nur im Beschlussverfahren ohne vorherige Anhörung, sondern darüber hinaus auch ohne vorprozessuale Abmahnung erfolge.

Der Anhörungsgrundsatz gebiete es in der Regel, dem Prozessgegner rechtliches Gehör auch schon vor der Entscheidung zu gewähren und ihm damit die Möglichkeit der Einflussnahme auf das Verfahren zu geben. Etwas Anderes gelte nur in extremsten Ausnahmefällen, die das BVerfG beispielhaft in den gänzlich anders gelagerten Konstellationen des ZPO-Arrestverfahrens, der Untersuchungshaft oder der Wohnungsdurchsuchung sieht. Nur dort sei eine Überraschung oder Überrumpelung des Gegners erforderlich, um den Zweck des Verfahrens nicht zu gefährden. Bereits dieser Vergleich zeigt, dass das BVerfG den Grundsatz des rechtlichen Gehörs als höchstes prozessuales Recht bewertet.

Von der Frage des rechtlichen Gehörs ist hingegen die Frage nach der Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu unterscheiden. Ob aufgrund der besonderen Dringlichkeit des Verfahrens i.S.d. § 937 Abs. 2 ZPO im Beschlussverfahren zu entscheiden ist, obliegt dem weiten Ermessensspielraum des erkennenden Gerichts. Erforderlich für eine Entscheidung im Beschlusswege ist jedoch nach Ansicht des BVerfG trotz Dringlichkeit im Einzelnen das Folgende (vgl. BVerfG, 1 BvR 1783/17, Tz. 23):

  1. Der Antragsgegner muss zuvor hinsichtlich der angegriffenen Handlung abgemahnt worden sein, damit ihm überhaupt die Möglichkeit zur Stellungnahme eröffnet worden ist;
  2. der Verfügungsantrag muss unverzüglich nach Ablauf einer angemessenen Frist zur Abgabe der begehrten Unterlassungserklärung bei Gericht eingereicht worden sein;
  3. es muss Identität zwischen der abgemahnten Handlung und dem gerichtlich geltend gemachten Unterlassungsbegehren bestehen und
  4. das Zurückweisungsschreiben des Abgemahnten muss zusammen mit dem Antrag eingereicht werden.

Ebenso klar hat das BVerfG ausgeführt, in welchen Fällen eine mündliche Verhandlung durchgeführt werden muss:

  1. Wenn der Antragsgegner gar nicht zuvor abgemahnt worden ist oder
  2. sofern der Vortrag zur Begründung der einstweiligen Verfügung über die Begründung der Abmahnung hinausgeht.

Auch den Umgang mit gerichtlichen Hinweisen gemäß § 139 ZPO im Rahmen des Beschlussverfahrens präzisiert das Gericht: So sind alle mündlichen/fernmündlichen Hinweise des Gerichts aktenkundig zu machen. Alle gerichtlichen Hinweise sind zudem dem Antragsgegner vor der Entscheidung mitzuteilen, um diesen in den gleichen Kenntnisstand zu versetzen wie den Antragsteller. Dies gilt insbesondere für Hinweise betreffend die Ablehnung oder Nachbesserung des Antrags, dessen Erfolgsaussichten oder bezüglich des (Nicht-)Bestehens der Dringlichkeit.

Praxishinweis

Die Entscheidungen haben das Ende der Schubladenverfügung eingeläutet. Die bisher gewährte Praxis des Geheimverfahrens ohne Kenntnis des Antragsgegners kann so nicht aufrechterhalten werden.

Zunächst drängt sich die Frage auf, ob möglicherweise die Gewährung einer nur unangemessen kurzen Antwortfrist für die Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung vor Beantragung der einstweiligen Verfügung dazu führen kann, dass das Gericht nicht im Beschlusswege wird entscheiden können, sondern den Antragsgegner in der mündlichen Verhandlung anhören muss. So ließe sich argumentieren, dass der Antragsteller dem Antragsgegner aufgrund der Unangemessenheit der Fristsetzung keine ausreichende Möglichkeit zur vorgerichtlichen Stellungnahme eingeräumt hat. Die Gewährung rechtlichen Gehörs müsste dann durch das erkennende Gericht nachgeholt werden.

Besonderes Augenmerk wird ferner auf die Formulierung und Begründung der Unterlassungsanträge zu legen sein. Diese sollten nicht über die im Rahmen der vorformulierten Unterlassungserklärung beschriebene Verletzungshandlung hinausgehen. Denn sollte der Unterlassungsantrag über das zuvor abgemahnte Verhalten hinausgehen, könnte dies als Anhörungsmangel angesehen werden, der das Gericht zur Durchführung der mündlichen Verhandlung zwingt.

Spannend wird auch der zukünftige Umgang der Gerichte mit der verschärften Hinweispflicht zu Gunsten des Antragsgegners sein. In der Vergangenheit war es geübte Praxis der Gerichte, dem Antragsteller Hinweise zur Anpassung seiner Anträge zu geben, wenn diese zu unbestimmt und daher möglicherweise unzulässig waren. In Folge der verschärften Hinweispflicht werden die Gerichte in diesen Fällen dazu übergehen müssen, auch dem Antragsgegner die Möglichkeit zur Stellungnahme einzuräumen. Dies kann zu einer erheblichen zeitlichen Verzögerung des Verfahrens führen, die möglicherweise den Verfügungsgrund gefährden kann, jedenfalls aber den mit dem einstweiligen Verfügungsverfahren bezweckten Erfolg der raschen Beseitigung und Unterlassung der angegriffenen Rechtsverstöße vereitelt. Daher wird in Zukunft noch größeres Augenmerk auf die korrekte Formulierung der Unterlassungsanträge zu legen sein.

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