Co-Autor: Tim-Jonas Löbeth
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat mit Urteil vom 1. August 2025 einen wegweisenden Schlussstrich unter einen jahrelangen Streit gezogen: Die seit 2019 geltende, von der EU-Kommission eingeführte Einstufung von Titandioxid in Pulverform als „vermutlich krebserzeugend beim Einatmen“ nach der CLP-Verordnung ist nichtig. Die Entscheidung hat erhebliche signalhafte Wirkung für die gesamte Chemie- und Farbenbranche, zahlreiche betroffene Industrien und ihre Zulieferkette.
Hintergrund: Was ist Titandioxid und was ging dem Urteil voraus?
Titandioxid (TiO₂) ist einer der verbreitetsten Weißmacher weltweit. Es findet in einer Vielzahl von Produkten Anwendung – von Wandfarben, Lacken und Kunststoffen über Papier bis hin zu Zahnpasta, Sonnencreme und Kosmetika. 2019 stufte die EU-Kommission Titandioxid in bestimmten Pulverformen als “vermutlich krebserregend beim Einatmen” ein und ordnete entsprechende Kennzeichnungspflichten an. Die wissenschaftliche Grundlage dieser Einschätzung war allerdings von Beginn an umstritten und wurde von verschiedenen Branchen, wissenschaftlichen Akteuren wie auch EU-Mitgliedstaaten angefochten.
Das EuGH-Urteil vom 1. August 2025: Inhalte und Konsequenzen
Urteil und Begründung
Der EuGH bestätigte und bekräftigte mit seiner Entscheidung die bereits 2022 getroffene Vorinstanz (EuG). Die zentrale Aussage: Die harmonisierte Einstufung von Titandioxid als “vermutlich krebserregend beim Einatmen” in bestimmten Pulverformen wird vollständig aufgehoben. Begründet wurde dies in der Vorinstanz mit „offensichtlichen Fehlern“ bei der Bewertung der Datenlage durch die Kommission. Maßgeblich war, dass die wissenschaftliche Evidenz den Zusammenhang zwischen der Exposition im Alltagsgebrauch und dem theoretischen Krebsrisiko nicht ausreichend belegte. Der EuGH schloss sich dieser Beurteilung an.
Sofortige Rechtswirkung: Rücknahme der Kennzeichnungspflicht
Mit der Verkündung des Urteils sind die zahlreichen Folgepflichten in der EU sofort entfallen: Die Kennzeichnungspflicht betreffend Titandioxid in Pulverform sowie ergänzende Hinweise wie der EUH211 und EUH212-Satz für entsprechende Gemische sind ungültig. Der entsprechende Eintrag wird aus Anhang VI der CLP-Verordnung (EG 1272/2008) entfernt.
Für Betriebe bedeutet das konkret: Eine Gefahrstoffkennzeichnung „Carc. 2“ ist für Titandioxid in betroffenen Formen in der EU nicht mehr zu verwenden. Gleiches gilt für die Sicherheitsdatenblätter, Produktdokumentationen und Online-Produktbeschreibungen.
Fristen: Bis wann müssen bestehende Etikettierungen und Sicherheitsdatenblätter angepasst werden?
Im Sinne von Artikel 30 der CLP-Verordnung ist die Änderung eine „Erleichterung“ (also keine Verschärfung). Das Etikett muss deshalb spätestens innerhalb von 18 Monaten umgestellt werden – sprich: Bis spätestens zum 1. Februar 2027 müssen alle betroffenen Produkte, die noch die alte Warnkennzeichnung oder entsprechende Hinweise enthalten, umdeklariert sein. Neu in Verkehr gebrachte Ware ist ab dem 1. August 2025 direkt ohne diese Kennzeichnung zu versehen. Für Biozidprodukte gilt nach der europäischen Durchführungsverordnung zur Änderung von Produkten eine Frist von 12 Monaten ab dem Stichtag zur Übermittlung geänderter Informationen an Behörden bzw. der European Chemicals Agency (ECHA).
Auswirkungen auf Herstellerpflichten in der Praxis
Etiketten und Safety Data Sheets (SDS)
Hersteller, Importeure und Händler von Farben, Lacken, Kunststoffen, Kosmetika oder anderen Produkten mit Titandioxid müssen nun - sämtliche Produktetiketten und Sicherheitsdatenblätter auf der Basis aktueller Rechtslage überprüfen, - alle CLP-spezifischen Angaben zu Titandioxid als „vermutlich krebserregend“ (inklusive H351, EUH211, EUH212) entfernen, - in Sicherheitsdatenblättern gegebenenfalls den Hinweis aufnehmen, dass mit Wirkung vom 01.08.2025 keine spezifische Kennzeichnungspflicht hierfür mehr besteht. Bestehende Lagerware darf bis zum Ablauf der 18-Monatsfrist abverkauft werden, muss dann aber ebenfalls neu etikettiert werden.
Lieferketten-Kommunikation und Kundeninformation
Insbesondere Zulieferer und Großhändler müssen ihre nachfolgenden Kunden rechtzeitig und schriftlich über die Änderung informieren sowie auf die geänderte Rechtslage und die Frist zum Update der Dokumentation hinweisen. Fehletikettierungen nach Fristablauf gelten als Wettbewerbsverstoß und rufen ggf. Behörden auf den Plan.
Grenzüberschreitender Warenverkehr
Hersteller, die Produkte mit Titandioxid exportieren oder importieren, müssen darauf achten, dass außerhalb der EU teilweise noch andere Vorschriften gelten. Das EuGH-Urteil entfaltet keine unmittelbare Wirkung etwa auf UK-REACH oder Regularien in Nordamerika oder Asien. Eine differenzierte Compliance-Strategie je nach Absatzmarkt ist daher weiterhin notwendig.