14. November 2024
Veröffentlichungsreihe "Recht: nachhaltig" – 4 von 8 Insights
Co-Autorin: Luna Marie Lindemann
Am Dienstag, den 12. November 2024, erließ das Berufungsgericht in Den Haag ein wegweisendes Urteil, das insbesondere bei großen Unternehmen der Ölindustrie aber auch allgemein bei Industrieunternehmen für Erleichterung gesorgt haben dürfte.
Im Zentrum stand die Klage der niederländischen Umweltschutzorganisation Milieudefensie gegen den Öl- und Gaskonzern Shell. Das Unternehmen wehrte sich gegen ein Urteil der ersten Instanz aus dem Jahr 2021, das es verpflichtete, seine CO₂-Emissionen bis 2030 um 45 % im Vergleich zu 2019 zu reduzieren. Diese Vorgabe bezog sich auf sämtliche Emissionen des Unternehmens, einschließlich der Scope-1-, Scope-2- und Scope-3-Emissionen.
Das Urteil aus dem Jahr 2021 basierte auf der Sorgfaltspflicht aus Art. 6:162 des niederländischen Bürgerlichen Gesetzbuchs. Diese Norm verpflichtet Unternehmen dazu, bei der Gestaltung ihrer Geschäftspolitik und ihres Energieportfolios die gebotene Sorgfalt walten zu lassen, die den allgemeinen gesellschaftlichen Standards entspricht. Zur Auslegung dieser Pflicht zog das Gericht internationale Verträge wie das Pariser Klimaschutzabkommen, die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) sowie den UN-Zivilpakt heran. Zusätzlich wurden die nicht-bindenden UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte herangezogen.
Das Gericht der ersten Instanz leitete aus diesen Normen eine allgemeine Verpflichtung von Unternehmen ab, aktiv zum Klimaschutz beizutragen. Shell wurde dabei verpflichtet, die Menschenrechte der niederländischen Bürger zu schützen, indem das Unternehmen angemessene Maßnahmen zur Reduktion seiner Emissionen ergriff.
Das Berufungsgericht wich in wesentlichen Punkten von der Entscheidung der ersten Instanz ab. Es betonte, dass die Festlegung eines festen Emissionswerts nicht Aufgabe der Judikative, sondern der Legislative sei. Ein Gericht könne lediglich eine abstrakte Bewertung vornehmen, nicht jedoch konkrete Vorgaben festlegen. Dennoch bestätigte das Berufungsgericht die grundsätzliche Verpflichtung von Unternehmen zum Klimaschutz als Bestandteil des Schutzes der Menschenrechte gemäß Art. 2 und 8 EMRK. Diese Verpflichtung bestehe sowohl für Staaten als auch für private Akteure wie Unternehmen.
Das Berufungsgericht stellte jedoch fest, dass weder internationale Verträge noch nationale oder EU-Klimagesetze spezifische Emissionsgrenzwerte für Unternehmen festlegen. Unternehmen seien lediglich verpflichtet, die Ziele des Pariser Abkommens zu fördern. Dies könnten sie durch eigenverantwortliche Gestaltung ihrer Unternehmenspolitik erreichen.
Shell habe hinsichtlich seiner Scope-1- und Scope-2-Emissionen bereits hinreichende Maßnahmen ergriffen. Mit dem Ziel, diese Emissionen bis 2030 um 50 % im Vergleich zu 2016 zu senken, übertreffe Shell sogar die ursprüngliche Forderung aus dem Urteil der ersten Instanz. Hinsichtlich der Scope-3-Emissionen, die etwa 95 % der Gesamtemissionen des Konzerns ausmachen, erkannte das Gericht zwar eine grundsätzliche Verantwortung, sah jedoch keine Verpflichtung zur Einhaltung starrer Reduktionsvorgaben. Eine solche Verpflichtung könne zu Wettbewerbsverzerrungen führen und letztlich kontraproduktiv sein.
Ungeklärt bleibt, ob Shells geplante Neuinvestitionen in Öl- und Gasfelder mit den Klimazielen vereinbar sind. Diese Frage war nicht Teil der aktuellen Klage, doch das Gericht deutete an, dass solche Investitionen potenziell nicht mit dem Pariser Abkommen in Einklang stehen könnten. Es bleibt abzuwarten, ob Milieudefensie in Revision geht und die Klage erweitert.
In Deutschland stehen ähnliche Klagen vor einem anderen rechtlichen Hintergrund. Während das Bundesverfassungsgericht in seiner Klimaschutzentscheidung von 2021 (Beschluss vom 24. März 2021, 1 BvR 2656/18) betonte, dass der Schutz des Klimas ein wesentliches Anliegen der Verfassung sei, hat es zugleich klargestellt, dass der Gesetzgeber wesentliche Entscheidungen selbst treffen muss. Dieses Prinzip der Wesentlichkeitstheorie legt fest, dass Fragen von grundsätzlicher Bedeutung – wie etwa die Festlegung von Klimazielen – in den Händen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers liegen.
In der Praxis führte dies dazu, dass deutsche Gerichte bisher Klagen gegen Unternehmen wie VW, BMW und Mercedes-Benz abwiesen. Die Gerichte argumentierten, dass diese Unternehmen aktuell nicht gegen bestehende Gesetze wie das Klimaschutzgesetz verstoßen. Dennoch bleibt offen, ob eine Änderung dieser Rechtsprechung bevorsteht, falls die Unternehmen ihre Klimaschutzmaßnahmen nicht entsprechend anpassen.
Das Urteil des Berufungsgerichts in Den Haag unterstreicht ebenfalls, dass die richterliche Kontrolle Grenzen hat, wenn es um konkrete Vorgaben für die Wirtschaft geht. Wie in Deutschland bleibt die Legislative in der Pflicht, klare Regeln und Ziele zu formulieren, um den globalen Klimaschutz effektiv zu fördern.
Die Reihe im Überblick: "Recht: nachhaltig"
von mehreren Autoren
2. Dezember 2024
von Felipe Villena
29. November 2024
14. November 2024
26. August 2022
Veröffentlichungsreihe: "Recht: nachhaltig"
14. Februar 2022
16. Februar 2022
von mehreren Autoren