18. September 2024
Mit seinem Urteil vom 20. Juni 2024, Az. 3 U 3/24, hat das Hanseatische Oberlandesgericht Hamburg (OLG) entschieden, dass auch eine asynchrone telemedizinische Software als Medizinprodukt der Risikoklasse IIa zertifiziert sein muss, wenn diese zur Bestimmung der ärztlichen Diagnose keine eigenen Daten erhebt, sondern die Patientendaten strukturiert übermittelt. Diese Entscheidung könnte somit weitreichende Konsequenzen für die Telemedizin und den gesamten Markt für Gesundheits-Apps haben.
Der Entscheidung liegt ein wettbewerbsrechtliches Eilverfahren zwischen zwei Unternehmen zugrunde, die Gesundheits-Apps anbieten. Mit Hilfe der streitgegenständlichen App der Antragsgegnerin können Patienten mit Hautleiden Dermatologen relevante medizinische Informationen für eine Diagnose zur Verfügung stellen. So werden mittels der App durch den Patienten Lichtbilder der betroffenen Hautstelle sowie ein von dem Patienten auszufüllender Anamnesebogen an einen Hautfacharzt gesendet. Der von dem Patienten auszufüllende Anamnesebogen variiert dabei entsprechend dem jeweiligen Hautproblem, welches von dem Patienten, aus einer durch die App vorgegebenen Auswahl, selbst zu konkretisieren ist. Basierend auf den so übermittelten Informationen erhält der Patient eine ärztliche Diagnose sowie gegebenenfalls Behandlungsvorschläge und ein Rezept. Die Antragsgegnerin hatte ihre App als ein Medizinprodukt der Klasse I eingeordnet, während die Antragstellerin die Ansicht vertrat, dass die App aufgrund ihrer Funktionsweise nur als Medizinprodukt der Klasse IIa oder höher verkehrsfähig sei.
Medizinprodukte werden gemäß der VO (EU) 2017/745 (im Folgenden: MDR) verschiedenen Risikoklassen zugeordnet. Die so vorgeschriebene Klassifizierung erfolgt für Medizinprodukte und deren Zubehör aufgrund des Verweises in Art. 51 Abs. 1 MDR nach den Regelungen des Anhangs VIII der MDR in vier Risikoklassen (die Klassen I, IIa, IIb und III), wobei die Risikoklassen für das unterschiedliche Risikopotential der Medizinprodukte stehen. Die Klassifizierung beruht nach Erwägungsgrund 58 zur MDR auf der Verletzbarkeit des menschlichen Körpers und berücksichtigt die potenziellen Risiken im Zusammenhang mit der technischen Auslegung und Herstellung der Produkte.
Die Zuordnung des Produktes in eine der vier Risikoklassen ist die Grundlage für die Wahl des richtigen Konformitätsbewertungsverfahrens hinsichtlich des konkreten Medizinproduktes. Denn nach Art. 5 Abs. 1 MDR darf ein Medizinprodukt nur dann in den Verkehr gebracht werden, wenn es bei einer Verwendung entsprechend seiner Zweckbestimmung den Regelungen dieser Verordnung entspricht. Vor dem Inverkehrbringen muss dieser Nachweis von dem Hersteller im Rahmen eines Konformitätsbewertungsverfahrens erbracht werden, Art. 10 Abs. 6 MDR. Die Frage danach, welches Konformitätsbewertungsverfahren im jeweiligen Fall Anwendung findet, ergibt sich dann aus der vierstufigen Risikoklassifizierung in Art. 52 MDR. Einzig bei Medizinprodukten der niedrigsten Risikoklasse – der Klasse I – kann der Hersteller die Konformität selbst feststellen, weshalb mithin das Konformitätsbewertungsverfahren hier in alleiniger Verantwortung des Herstellers durchgeführt werden kann. Für alle höheren Risikoklassen ist dagegen die Einschaltung und Beteiligung einer Benannten Stelle erforderlich.
Während in der Vorinstanz das Landgericht Hamburg (LG) mit Urteil vom 10. Januar 2024 (Az. 416 HKO 64/23 ), die Ansicht vertrat, dass die in Streit stehende App nicht als Medizinprodukt der Klasse IIa oder höher einzuordnen sei, entschied das OLG im Berufungsverfahren, dass die streitgegenständliche App mit der Zweckbestimmung zur „asynchronen Untersuchung von Hautveränderungen mittels Aufnahme, Speicherung, Anzeigen und Übermittlung von digitalem Bildmaterial von den betroffenen Hautarealen, sowie die Beantwortung eines Anamnesebogens und der Kommunikation (Chat) mit Fachärzten“ nicht auf dem Markt bereitgestellt werden dürfe, solange sie nicht als Medizinprodukt der Klasse IIa, IIb oder III nach Anhang VIII, Regel 11 Verordnung (EU) 2017/745 zertifiziert sei.
Maßgeblich für die Entscheidung des OLG ist seine Auslegung der Klassifizierungsregel 11 in Anhang VIII der MDR, die wie folgt lautet:
„Software, die dazu bestimmt ist, Informationen zu liefern, die zu Entscheidungen für diagnostische oder therapeutische Zwecke herangezogen werden, gehört zur Klasse IIa (…) Sämtliche andere Software wird der Klasse I zugeordnet.“
Im Zentrum der Entscheidung stand hierbei die Auslegung des Begriffs „liefern“. Nach Ansicht des OLG verlange der Lieferbegriff im Sinne der Klassifizierungsregel gerade nicht, „dass die Software selbst Diagnosen erstellt oder Informationen generiert, produziert, hervorbringt oder herstellt, in dem z.B. die Software eine eigenständige Auswertung/Analyse oder Bewertung der mitgeteilten, gemessenen oder fotografierten Daten und Bilder vornimmt“.
Das OLG begründete seine Auffassung, dass eine derartige einschränkende Auslegung des Wortlauts gerade nicht angezeigt sei, insbesondere mit dem Verordnungszweck eines hohen Gesundheitsschutzniveaus für Patienten und Anwender. Nach Auffassung des OLG liefere die App das Ergebnis einer strukturierten Erhebung medizinischer Daten, weil nach ihrer Programmierung die eigene Diagnoseeinschätzung des Patienten – in Form seiner gegebenen Antworten – Einfluss auf die im Rahmen der Anamnese weiter gestellten Fragen und damit auf die an den Hautarzt ausgegebenen Informationen habe. Die App nehme damit Einfluss auf den Anamneseinhalt und die Diagnose einer Erkrankung, die der Patient im ersten Schritt selbst einordnen müsse. Dies geschehe nicht auf Grundlage einer ärztlichen Einzelfallentscheidung – die Software greife somit in den Diagnoseprozess ein und beeinflusse ihn.
Das Urteil des OLG hat somit für Gesundheitsapps erhebliche praktische Bedeutung. Es verdeutlicht, dass Hersteller zukünftig bei der Frage der Einordnung ihrer medizinischen Software genau prüfen sollten, wie sie den spezifischen Zweck ihres digitalen Produkts beschreiben und zudem genau definieren müssen, welche konkrete Funktionsweise die Software Ist die Software nach der Zweckbestimmung als Medizinprodukt einzuordnen, hat der Hersteller in einem zweiten Schritt genau zu prüfen, in welche Risikoklasse das Produkt einzuordnen ist, um den regulatorischen Anforderungen der MDR gerecht zu werden. Die Beachtung dieser regulatorischen Anforderungen sind dabei auch im Hinblick auf das Wettbewerbsrecht von zentraler Bedeutung. Denn eine zu niedrige Risikoqualifizierung des Medizinprodukts kann zur Geltendmachung wettbewerbsrechtlicher Ansprüche durch Mitbewerber führen, u.a. unter Verweis auf eine Irreführung der angesprochenen Verkehrskreise.
Bewirbt ein Hersteller seine Medizinproduktesoftware auf dem Markt, ohne dass diese entsprechend den Klassifizierungsregeln der MDR in die richtige Risikoklasse eingeordnet wurde und in diesem Zuge das richtige Konformitätsbewertungsverfahren durchlaufen hat, liegt gemäß § 3a UWG ein Wettbewerbsverstoß vor. Denn das gemäß Art. 5 Abs. 1 MDR bestehende Verbot, Medizinprodukte in den Verkehr zu bringen, ohne die Voraussetzungen der MDR zu erfüllen, stellt eine Marktverhaltensregelung dar.
Die Durchführung eines medizinprodukterechtlichen Konformitätsbewertungsverfahrens mit anschließender CE-Kennzeichnung dient der Sicherheit, Eignung und Leistung der Medizinprodukte und damit der Gesundheit und dem Schutz der mit ihnen in Kontakt kommenden Personen. Sie dient aber zugleich dazu, für die Wirtschaftsakteure im Binnenmarkt gleiche Bedingungen herzustellen. Die schutzwürdigen Interessen der Wettbewerber werden insofern beeinträchtigt, als dass diese ihre Produkte aufgrund des notwendigen und unter Umständen aufwendigen Konformitätsbewertungsverfahrens unter Einbeziehung einer Benannten Stelle nur mit einem erheblichen finanziellen und zeitlichen Mehraufwand in Verkehr bringen können. Dies verschafft dem Hersteller, der für sein Produkt ein Konformitätsbewertungsverfahren nur gemäß den niedrigeren Anforderungen der Risikoklasse I in eigener Verantwortung durchführt, einen erheblichen Wettbewerbsvorteil gegenüber der Konkurrenz.