19. August 2021
Ab Juni 2022 gelten neue Spielregeln für den Vertrieb in der EU. Denn dann gilt die neue Vertikal-Gruppenfreistellungs-Verordnung („Vertikal-GVO“). Die Vertikal-GVO regelt abstrakt, wann Wettbewerbsbeschränkungen erlaubt bzw. verboten sind, insbesondere in Vertriebsverträgen. Damit ist sie laut Exekutiv-Vizepräsidentin der Europäischen Kommission Margrethe Vestager „ein wichtiges politisches Vorhaben, weil vertikale Vereinbarungen etwa zwischen Anbietern von Waren und Dienstleistungen und ihren Vertriebshändlern in allen Wirtschaftszweigen der EU allgegenwärtig sind“.
Wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen sind nach Art. 101 AEUV verboten, wenn sie den Wettbewerb spürbar beeinträchtigen. Die Vertikal-GVO erlaubt eine möglichst rechtssichere Gestaltung von Vertriebssystemen bzw. den jeweiligen Vertriebs- und Kaufverträgen, indem sie u.a. regelt, welche Vorgaben in Alleinvertriebssystemen und welche in selektiven Vertriebssystemen erlaubt sind, einschließlich des Onlinevertriebs.
Gerade der Onlinevertrieb wächst seit Jahren – ist allerdings in der geltenden Vertikal-GVO 330/2010 nicht ausdrücklich erwähnt. Diese technische bzw. wirtschaftliche Entwicklung möchte die Europäische Kommission nun in der Vertikal-GVO abbilden und hat dazu einen ersten Entwurf der künftigen Vertikal-GVO („Vertikal-GVO-E“) sowie der zugehörigen Vertikal-Leitlinien veröffentlicht. Gemäß dem Entwurf bleibt es bei den grundsätzlichen Rahmenbedingungen: Die künftige Vertikal-GVO stellt Vereinbarungen frei, die (i) vertikal (= zwischen Nichtwettbewerbern) geschlossen werden, (ii) sofern diese Unternehmen Marktanteile bis maximal 30% haben und (iii) keine Kernbeschränkungen enthalten. Zu den verbotenen Kernbeschränkungen gehört unverändert das Verbot der Preisbindung zweiter Hand.
Neu sind folgende fünf Begriffe:
Mit diesen Begriffen bzw. daneben ändert die künftige Vertikal-GVO einige Voraussetzungen bzw. die Rückausnahmen der Kernbeschränkungen. Teils werden die Regelungen lockerer, teils enger, sprich etwas wird teils mehr Freiheiten geben, teils werden die Vertragsparteien aber auch gezwungen, ihre Regelungen anzupassen.
Möglich wird es etwa, dass Hersteller ihren Händlern Vorgaben zu den von den Händlern verwendeten Sprachoptionen geben. Auch können Hersteller künftig die Exklusivbindung weitergeben und damit Grauimporte besser verhindern. Zugleich gibt es besondere Marktanteilsgrenzen für Hersteller, die ihre Produkte im dualen Vertrieb verkaufen, also selbst und parallel über Händler.
Beim dualen Vertrieb vertreibt der Anbieter seine Waren sowohl direkt als auch über Händler. Vereinbarungen, die nicht dieses Wettbewerbsverhältnis, sondern ausschließlich die Liefer- und Vertriebsbeziehung beider betreffen, können nach der Vertikal-GVO erlaubt sein (vgl. Art. 2 Abs. 4 lit. a) Vertikal-GVO). Künftig sollen strengere Regeln gelten, insbesondere niedrigere Marktanteilsschwellen: Die künftige Vertikal-GVO stellt Vereinbarungen nur frei, wenn der gemeinsame Anteil des Herstellers und des Händlers auf der Einzelhandelsstufe maximal 10% beträgt (Art. 2 Abs. 4 Vertikal-GVO-E) – wobei sich insbesondere die Schwelle bis zur finalen Fassung noch ändern mag.
Bei einem Marktanteil von gemeinsam über 10%, aber jeweils maximal 30% sind Vertragshändlerverträge gleichwohl freigestellt (Art. 2 Abs. 6 Vertikal-GVO-E) – nur nicht der Informationsaustausch zwischen Hersteller und Händler: Hierfür gelten aufgrund der darin liegenden Risiken kollusiven Zusammenwirkens die Regelungen für horizontale Vereinbarungen, also insbesondere die Leitlinien über die horizontale Zusammenarbeit.
Für Franchise- und andere Lizenzverträge bleibt alles beim Alten (vgl. Art. 2 Abs. 3 Vertikal-GVO-E). Für Franchiseverträge vorrangig bleibt damit auch künftig die Frage, ob die jeweilige Regelung gemäß Pronuptia-Urteil des EuGH von 1986 kartellrechtlich unbedenklich ist, weil Franchising einheitliche Produkte und ein einheitliches Auftreten am Markt voraussetzt.
Online-Vermittlungsdienste unterfallen nun – bislang umstritten – der Vertikal-GVO. Denn sie werden dort jetzt als „Anbieter“ qualifiziert (Art. 1 Abs. 1 lit. d) Vertikal-GVO-E). Für Online-Vermittlungsdienste sollen künftig folgende Paritätsverpflichtungen unzulässig sein: „Verpflichtungen, … Waren oder Dienstleistungen Endverbrauchern nicht unter Inanspruchnahme konkurrierender Online-Vermittlungsdienste zu günstigeren Bedingungen anzubieten“ (Art. 5 Abs. 1 lit. d) Vertikal-GVO-E; Entwurf der Leitlinien, Rn. 333 ff.).
Weiterhin gilt hier die Maximaldauer von fünf Jahren (Art. 5 Abs. 1 lit. a) Vertikal-GVO-E). Anders als bislang soll ab Juni 2022 laut der Kommission künftig zulässig sein, dass Wettbewerbsverbote sich stillschweigend über einen Zeitraum von fünf Jahren verlängern – vorausgesetzt, es bestehen angemessene Kündigungs- bzw. Neuverhandlungsmöglichkeiten, dass der Abnehmer zum Ablauf der fünf Jahre aus dem Wettbewerbsverbot aussteigen kann (Entwurf der Leitlinien, Rn. 234).
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