15. Dezember 2022
Der Europäische Gerichtshof beschäftigte sich in seiner Entscheidung vom 13.10.2022 – C-616/20 im Rahmen eines Vorabentscheidungverfahrens mit drei Vorlagefragen des Verwaltungsgerichts Köln betreffend die Einordung des Produktes „M2 Eyelash activating serum“ als „Funktionsarzneimittel“ im Sinne des Art. 1 Nr. 2 b der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel, umgesetzt durch § 2 Abs. 1 Nr. 2 a AMG.
Das BfArM vertrat in diesem Verfahren die Auffassung, dass das streitgegenständliche Produkt – „M2 Eyelash activating serum“, ein Produkt mit einer Konzentration von zwischen 0,001% und 0,302% des Wirkstoffs „Methylamido-Dihydro-Noralfaprostal“ (im Folgenden: MDN) – ein Arzneimittel im Sinne der Art. 1 Nr. 2 b der Richtlinie 2001/83/EG, § 2 Abs. 1 Nr. 2 a AMG darstellt. Entsprechend erließ die Behörde am 29. April 2014 einen Bescheid, nach dem es sich bei dem Produkt um ein „Funktionsarzneimittel“ handele. Es begründete seine Annahme damit, dass MDN als neuartiger synthetischer Wirkstoff, der zur Gruppe der Prostaglandinderivate gehört, weitgehend identisch mit Bimatoprost (im Folgenden: BMP) ist, das in Deutschland als Arzneimittel zugelassen und unter dem Namen „Lumigan“ in Augentropfen zur Behandlung des Glaukoms vertrieben wird. Eine entsprechende Untersuchung der chemischen und biologischen Eigenschaften von MDN selbst existiert nicht. Nach den Ausführungen des BfArM habe MDN eine pharmakologische Wirkung, da es eine Wechselwirkung mit dem Prostamidrezeptor eingehe, womit die Verlängerung der Wimpern eine nennenswerte Beeinflussung der Körperfunktionen sei. Auch spreche das Vorliegen einer Gesundheitsgefahr für eine Einordung als Arzneimittel. Diese Gesundheitsgefahren ergäben sich aus der Analogie zu BMP.
Das Produkt wurde von dem Hersteller im streitgegenständlichen Zeitpunkt jedoch als kosmetisches Mittel in Verkehr gebracht. Es fördert nach Angaben des Herstellers das Wachstum und die Dichte der Wimpern bis zu 50%. Der Hersteller ist dabei der Ansicht, dass die schlichte Beeinflussung der physiologischen Funktionen, ohne dass sie geeignet wäre, der menschlichen Gesundheit unmittelbar oder mittelbar zuträglich zu sein, keine Eigenschaft als Arzneimittel begründen könne.
Im Zuge dessen legte das Verwaltungsgericht Köln dem EuGH folgende Fragen vor:
Der EuGH führt hinsichtlich der ersten Frage aus, dass „Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der RL 2001/83 dahin auszulegen ist, dass eine nationale Behörde bei der Einstufung eines Produkts als „Arzneimittel“ im Sinne dieser Bestimmung die pharmakologischen Eigenschaften dieses Produkts feststellen kann, indem sie sich auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu einem Strukturanalogon dieses Stoffes stützt, wenn keine wissenschaftlichen Untersuchungen des Stoffes, aus dem das Produkt besteht, verfügbar sind und sofern der Grad der Analogie auf der Grundlage einer objektiven und wissenschaftlich fundierten Analyse die Annahme zulässt, dass ein Stoff, der in einem Produkt in einer bestimmten Konzentration vorhanden ist, die gleichen Eigenschaften aufweist wie ein vorhandener Stoff, für den die erforderlichen Untersuchungen vorliegen“.
Zusammenfassend kann sich die Behörde somit auch auf vergleichbare Produkte und Wirkstoffe stützen, um die pharmakologische Eigenschaft eines Produktes zu beurteilen. Im Hinblick auf die Beantwortung der zweiten und dritten Frage ist jedoch zu beachten, dass es sich bei der Vergleichbarkeit nicht um das einzige Kriterium handeln kann. Vielmehr ist das Produkt im Rahmen einer Gesamtbeschau zu würdigen.
Hinsichtlich der zweiten und dritten Frage beantwortete der EuGH diese einheitlich damit, dass „Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der RL 2001/83 dahin auszulegen ist, dass ein Produkt, das die physiologischen Funktionen beeinflusst, nur dann als „Arzneimittel“ im Sinne dieser Bestimmung eingestuft werden kann, wenn es konkrete, der Gesundheit zuträgliche Wirkungen hat. Insoweit genügt eine Verbesserung des Aussehens, die durch die Steigerung des Selbstwertgefühls oder des Wohlbefindens einen mittelbaren Nutzen herbeiführt, wenn sie die Behandlung einer anerkannten Krankheit ermöglicht. Dagegen kann ein Produkt, das das Aussehen verbessert, ohne schädliche Eigenschaften zu haben, und das keine gesundheitsfördernden Wirkungen hat, nicht als „Arzneimittel“ im Sinne dieser Bestimmung eingestuft werden“.
Damit führt der EuGH seine Rechtsprechung zur Auslegung des Begriffs „beeinflussen“ fort, nach der das zu beurteilende Produkt dem Funktionieren des menschlichen Organismus und folglich der menschlichen Gesundheit zuträglich sein muss. Bereits mit Urteilen bspw. aus den Jahren 2012 (EuGH, Urteil v. 06. 09. 2012, C-308/11 – Chemische Fabrik Kreussler) und 2014 (EuGH, Urteil v. 10.7.2014, C-358/13, C-181/14 – Legal Highs) wies der EuGH weiter in diese Richtung. Zwar genügt dabei die potenzielle Fähigkeit der unmittelbaren oder mittelbaren Zuträglichkeit. Das Produkt ist jedoch dann kein Arzneimittel im Sinne des Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der RL 2001/83, wenn es nicht einmal potenziell zur Behandlung einer anerkannten Krankheit verwendet wird. Es mangelt dann an der erforderlichen gesundheitsfördernden Wirkung. Daher fallen Produkte, die zwar Einwirkungen auf die Funktionsweise des Körpers haben, jedoch rein kosmetische Effekte hervorrufen, nicht unter den Begriff des Funktionsarzneimittels.
Zur Beurteilung muss in Berücksichtigung aller Merkmale des Produktes zwingend der spezifische Gebrauch berücksichtigt werden. Der EuGH legt dabei nicht ausdrücklich dar, was er unter „spezifischem Gebrauch“ versteht. In Auslegung und Deutung des Urteils scheint der EuGH jedoch auf die konkrete Verwendungsweise und Erwartungshaltung der Nutzer und die konkrete Konzentration und Wirkung abzustellen.
Die in der Antwort auf die erste Vorlagefrage geäußerte Ansicht des EuGH zur Strukturanalogie stellt die Hersteller von kosmetischen Mitteln vor das Problem, dass sie nicht nur die Wirkweise der eigens verwendeten Inhaltsstoffe im Auge behalten müssen. Vielmehr müssen nun auch die Beurteilungen hinsichtlich vergleichbarer Stoffe berücksichtigt werden, damit ein Produkt, das tatsächlich ein Arzneimittel darstellt, nicht als kosmetisches Produkt in Verkehr gebracht wird. Die Problematik wird aber durch die zweite Prüfungsstufe relativiert, indem für die Einstufung als Funktionsarzneimittel auf den spezifischen Gebrauch des Produkts und die gesundheitsfördernde Wirkung durch Behandlung einer anerkannten Krankheit abgestellt wird.