30. Juni 2022
Ob Arbeitnehmer sich auf den Kündigungsschutz nach dem Kündigungsschutzgesetz (KSchG) berufen können, hängt maßgeblich davon ab, ob der persönliche, räumliche und betriebliche Geltungsbereich des KSchG eröffnet ist. Dies kann nach einem Urteil des Landesarbeitsgericht (LAG) Düsseldorf vom 10. März 2022 – 11 Sa 346/21 selbst dann der Fall sein, wenn sich nicht der gesamte Betrieb im Inland befindet.
Für die Aussichten im Kündigungsschutzprozess ist es entscheidend, ob der Arbeitnehmer Kündigungsschutz unter dem KSchG genießt. Ist dies nicht der Fall, kann er sich nur auf Willkür oder Treuwidrigkeit der Kündigung berufen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) ist der räumliche Geltungsbereich des § 23 KSchG grundsätzlich auf betriebliche Einheiten in der Bundesrepublik Deutschland beschränkt. Eine betriebliche Einheit wird dabei als von einer Leitungsstruktur koordinierte Gruppe von Arbeitnehmern verstanden, die mit weiteren Betriebsmitteln einen arbeitstechnischen Zweck fortgesetzt verfolgt. Die Begrenzung des KSchG auf inländische Betriebe hat auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG, Beschluss v. 12.03.2009 – 1 BvR 1250/08) grundsätzlich gebilligt, verlangt jedoch eine verfassungskonforme Auslegung im Einzelfall, um unbillige Ergebnisse zu vermeiden.
Das vorliegend u.a. beklagte Luftverkehrsunternehmen beschäftigte an einem Standort an einem Flughafen in Deutschland, genannt Home Base, knapp 200 Mitarbeiter. Sie unterhielt dort eine gewisse örtliche Struktur mit Büroräumen und einem Aufenthaltsraum für die Crew. Zudem war bei der Home Base ein „Base Captain“ benannt, der als Ansprechpartner für die Arbeitnehmer am Standort in Deutschland diente. Die personelle Leitung des Flugbetriebs erfolgte jedoch ausschließlich von Polen aus.
Der Kläger war seit dem 3. September 2019 bei der Beklagten beschäftigt, zuletzt als Line Training Captain und war in dieser Funktion für die Weiterbildung der Piloten zuständig. Da er nicht im Linienverkehr zum Einsatz kam, war auch der Kläger der beschriebenen Home Base zugeordnet. Als sein Beschäftigungsverhältnis im Zuge der Corona-Pandemie gekündigt wurde, erhob er Klage. Neben der behaupteten Sozialwidrigkeit der Kündigung stritten die Parteien über einen möglichen Betriebsübergang und Vergütungsansprüche.
Das Arbeitsgericht Düsseldorf ging von der Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes aus. Die Beklagten machten daraufhin auch im Berufungsverfahren u.a. geltend, dass vorliegend der Anwendungsbereich des KSchG nicht eröffnet sei, weil die personelle Leitung im Ausland ansässig ist.
Auch das LAG Düsseldorf sah den räumlichen Geltungsbereich des KSchG vorliegend als eröffnet an. Zwar sei die Beschränkung des KSchG auf Betriebe in Deutschland im Einklang mit dem Grundgesetz, jedoch nur solange es im Einzelfall nicht zu einer Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes käme. Dieser sei verletzt, wenn eine Ungleichbehandlung nicht durch einen Sachgrund im Einzelfall gerechtfertigt ist. Gründe für die Rechtfertigung der Ungleichbehandlung in puncto Kündigungsschutz können insbesondere in dem Bedürfnis der Einbeziehung der betrieblichen Gegebenheiten bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Kündigung liegen.
Die Ungleichbehandlung des Klägers gegenüber dem Flugpersonal inländisch angesiedelter Flugbetriebe konnte vorliegend nicht durch das Eingreifen der benannten Gründe gerechtfertigt werden. Die Beklagte unterhielt einen permanenten Standort, an dem dauerhaft lokal beschäftigtes Personal den Arbeitstag begann und beendete. Auch wenn der „Base Captain“ nur als Ansprechpartner ohne eigene Entscheidungsbefugnis diene, spräche sein Vorhandensein als Anlaufstelle für Arbeitnehmer Vorort und den Leitungsapparat im Ausland für die Vergleichbarkeit der Situation mit derer von Arbeitnehmern eines inländischen Betriebes. Insgesamt stelle sich die betriebliche Lage für den Kläger daher im Wesentlichen so dar, als wäre er in einem inländisch geführten Flugbetrieb tätig. Für eine Vielzahl an Arbeitnehmern im Inland fände zudem das deutsche Arbeitsvertragsstatut Anwendung, sodass es bei der Prüfung der Sozialwidrigkeit der Kündigung nicht zu einer Kollision von verschiedenen Rechtssystemen und mithin nicht zu Widersprüchen kommen könne. Eine Ungleichbehandlung sei daher nicht durch einen Sachgrund gerechtfertigt und würde den Kläger in seiner Berufsfreiheit verletzen.
Da sich das Landesarbeitsgericht Düsseldorf in seiner Begründung maßgeblich auch auf § 23 KSchG stützt, hat das Urteil auch Relevanz außerhalb der Luftfahrtbranche. Entscheidend für die Anwendbarkeit des KSchG ist es, ob im Inland insgesamt Strukturen unterhalten werden, die einem Betrieb gleichkommen, selbst wenn die personelle Leitungsmacht im Ausland befindlich ist.
Gleichzeitig handelt es sich nicht um die insbesondere von Arbeitnehmern geforderte Öffnung des Kündigungsschutzes über den derzeitigen Geltungsbereich hinaus. Auch weiterhin ist grundsätzlich ein Betrieb im Inland für die Eröffnung des Geltungsbereichs erforderlich.
von Annika Rahn