16. Februar 2022
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in einem kürzlich veröffentlichten und lang ersehnten Grundsatzurteil (Urteil vom 18. Januar 2022, Rs. C-261/20) – entgegen aller Erwartungen - entschieden, dass die nationalen Gerichte die Mindestsätze der Honorarordnung für Architekten und Ingenieure (HOAI) 2013 zumindest in bereits anhängigen Gerichtsverfahren zwischen Privatpersonen anwenden können, wenn diese Verträge vor dem 31. Dezember 2020 geschlossen wurden.
Zur Begründung wird angeführt, dass nationale Gerichte bei einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen nicht allein aufgrund des Unionsrechts verpflichtet sind, eine entgegenstehende nationale Vorschrift nicht anzuwenden, wenn diese keine unmittelbare Wirkung entfaltet.
Grundlage für das Verfahren vor dem EuGH war eine Vorlagefrage des Bundesgerichtshofs (BGH). Dieser hat als Revisionsinstanz ein Urteil des Berliner Kammergerichts (KG) zu prüfen. Im vergangenen Jahr hatte der EuGH die Höchst- und Mindestentgelte der HOAI für europarechtswidrig erklärt (Urteil vom 4. Juli 2019, Rs. C-377/17). Als Reaktion auf dieses Urteil wurde die HOAI mit Wirkung zum 01.01.2021 erneuert und die verbindlichen Mindest- und Höchstsätze abgeschafft. In dem Berliner Fall ging es um eine Aufstockungsklage: Planer und Auftraggeber vereinbarten im Jahr 2016 ein Pauschalhonorar unterhalb des HOAI-Mindestsatzes. Nachträglich klagte der Planer ein Entgelt in Höhe des Mindestsatzes ein. Er bekam in zwei Instanzen Recht, und der Auftraggeber legte Revision beim BGH ein.
Nach der Entscheidung des EuGH können die nationalen Gerichte die dem Unionsrecht entgegenstehenden Mindestsätze der HOAI zwar weiter anwenden, sie sind jedoch hierzu nicht verpflichtet.
Für den BGH stellt sich nun die Frage, ob bei dem zur Entscheidung vorgelegten „Altfall“ noch das alte Recht mit den Mindestsätzen der „alten“ HOAI gilt, oder bereits die HOAI 2021 ohne Mindestsätze.
Nach der Entscheidung des EuGH ist beides möglich.
Für den Fall, dass ein Gericht die Mindestsätze nicht anwendet, könnten klagende Architekten und Ingenieure aber Schadenersatz vom deutschen Staat verlangen. Denn zumindest die bereits anhängigen Klagen seien im Vertrauen darauf angestrengt worden, dass die Preisvorgaben der HOAI gültig seien. Einen Verstoß der Mindestsätze gegen das europäische Recht hätte die Bundesregierung schon bei Erlass der HOAI 2009 und 2013 erkennen und auf verbindliche Preisvorgaben verzichten können. Folglich ist sie für Schäden haftbar, die dadurch entstanden sind, dass die Planer auf die Verbindlichkeit der Preisvorgaben vertrauten und entsprechende „Aufstockungsklagen“ einreichten. Der den Planern dann entstehende Schaden dürfte zumindest in den Prozesskosten bestehen, wohl aber nicht in der Honorardifferenz.
Dem EuGH Urteil folgend könnte aber auch dem geschädigten Auftraggeber, der durch die Aufstockungsklage ein höheres als das vereinbarte Honorar zu zahlen hat, grundsätzlich ein Schadenersatzanspruch gegen die Bundesrepublik Deutschland zustehen. Denn die Mitgliedsstaaten haften für solche Schäden, die dem Einzelnen durch die Nichtbeachtung des Unionsrecht entstanden sind. Dies gelte – so der EuGH – unabhängig davon, welche staatliche Stelle den Verstoß begangen und den Schadensersatz nach nationalem Recht zu leisten habe.
Damit bleiben folgende Fragen offen: