Am 21. Dezember 2021 verkündete die Große Kammer des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) das erste und lang erwartete Urteil zur Auslegung der sog. EU Blocking-Verordnung (EG) 2271/96 in der Rechtssache Bank Melli Iran gegen Telekom Deutschland GmbH (Az.: C-124/20). Die EU-Blocking-Verordnung untersagt europäischen Wirtschaftsteilnehmern sich an die dort aufgeführten ausländischen Sanktionen zu halten, es sei denn, die Europäische Kommission hat dies ausnahmsweise genehmigt. Die Entscheidung erging auf ein Vorabentscheidungsersuchen des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg (OLG) nach Vorlage der Schlussanträge des Generalanwalts Hogan vom 12. Mai 2021.
Was hat der EuGH in der Rs. Bank Melli Iran entschieden?
- Anwendungsbereich des Befolgungsverbots
Die erste Frage des OLG zielte auf den Anwendungsbereich des Befolgungsverbots in Art. 5 Abs. 1 EU Blocking-Verordnung ab. Das OLG wollte vom EuGH wissen, ob die Anwendung des Befolgungsverbots von einer gegenüber dem EU-Wirtschaftsteilnehmer ergangenen konkreten Befolgungsanweisung eines US-Gerichts oder einer US-Behörde abhänge oder ob es ausreiche, wenn das Handeln des EU-Wirtschaftsteilnehmers auch ohne solche Anweisungen darauf gerichtet ist, Sekundärsanktionen zu befolgen. Der EuGH stellte – wenig überraschend – klar, dass das Befolgungsverbot unabhängig von etwaigen Weisungen anwendbar ist.
- Beweislasterleichterung für Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 EU Blocking-Verordnung
Das OLG fragte außerdem, ob Art. 5 Abs. 1 EU-Blocking-Verordnung dahingehend auszulegen ist, dass die Regelung es einem EU-Wirtschaftsteilnehmer verwehrt, Verträge mit einer in der SDN-Liste aufgeführten Person ohne Angabe von Gründen zu kündigen. Der EuGH erkennt zwar, dass aus der EU-Blocking-Verordnung selbst nicht grundsätzlich folge, dass die Kündigung von Verträgen mit drittstaatlich sanktionierten Wirtschaftsakteuren nur unter der Angabe von Gründen möglich sei. Der EuGH sieht aber die Schwierigkeit für die gekündigte Partei, den wahren Grund für eine unternehmerische Entscheidung beweisen zu können. Diese Diskrepanz beeinflusse die Anwendung der herkömmlichen Beweisregelung für die Wirksamkeit des Befolgungsverbots. Um also die Wirksamkeit der Kündigung gewährleisten zu können, muss die kündigende Partei nachweisen können, dass ihr Verhalten nicht darauf abzielte, die US-Sekundärsanktionen einzuhalten, soweit im Rahmen eines Zivilprozesses „alle Beweismittel, über die ein nationales Gericht verfügt, auf den ersten Blick darauf hindeuten, dass sie den gelisteten Gesetzen nachgekommen ist“.
- Verhältnismäßigkeit begrenzen Befolgungsverbot
Der EuGH kam außerdem auf Nachfrage des OLG zu dem Ergebnis, dass Art. 16 (Unternehmerische Freiheit) und Art. 52 (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit) der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Charta) der Feststellung der Unwirksamkeit einer solchen Kündigung von Verträgen nicht entgegenstehen, soweit die Feststellung der Unwirksamkeit für die kündigende Partei keine in Anbetracht der Ziele der EU Blocking-Verordnung, die bestehende Rechtsordnung und die Interessen der Union im Allgemeinen zu schützen, unverhältnismäßigen Auswirkungen hat. Bei der von den nationalen Gerichten vorzunehmenden Verhältnismäßigkeitsprüfung ist die Verfolgung dieser Ziele, der mit der Feststellung der Unwirksamkeit einer gegen das in Art. 5 Abs. 1 EU Blocking-Verordnung vorgesehene Verbot verstoßenden Vertragskündigung gedient wird, gegen die Wahrscheinlichkeit abzuwägen, dass die kündigende Partei wirtschaftlichen Verlusten ausgesetzt wird, sowie gegen deren Ausmaß für den Fall, dass sie die Geschäftsverbindung mit der gekündigten Partei, die den US-Sekundärsanktionen unterliegt, nicht beenden darf.
- Vor welchem Hintergrund ist das Urteil ergangen?
Die Telekom Deutschland GmbH war der Telekommunikationsanbieter der Bank Melli Iran und kündigte die Verträge kurz nachdem die USA infolge des Austritts aus dem iranischen Atomabkommen (JCPOA) die US-Sekundärsanktionen gegen den Iran wiedereingeführt hatten und die Bank Melli Iran auf die SDN-Liste gesetzt hatten. Als Reaktion auf die Wiedereinführung der US-Sekundärsanktionen, deren extraterritoriale Anwendung aus Sicht der Europäischen Union völkerrechtswidrig ist, reaktivierte die Europäische Union die EU Blocking-Verordnung Die EU Blocking-Verordnung untersagt u.a. europäischen Wirtschaftsteilnehmern, sich an US-Sanktionen zu halten, es sei denn, die Europäische Kommission hat dies genehmigt. Da die Kündigungen der Telekom Deutschland GmbH in einem engen zeitlichen Zusammenhang mit der SDN-Listung von der Bank Melli Iran standen, griff die Bank Melli Iran die Vertragskündigungen unter Berufung auf Art. 5 Abs. 1 EU Blocking-Verordnung an und rügte die Unwirksamkeit der Kündigungen. Dass mit der Frage der Auslegung der Vorschrift befasste OLG ersuchte daraufhin den EuGH im Wege des zuvor besprochenen Vorabentscheidungsverfahrens.
Was bedeutet das Urteil für Unternehmen?
Der EuGH macht klar, dass europäische Unternehmen die EU Blocking-Verordnung zu beachten haben. Bei einem Verstoß gegen das Befolgungsverbot der EU Blocking-Verordnung können die betroffenen Rechtshandlungen der jeweiligen Partei nichtig sein. Zugleich eröffnet der Gerichtshof allerdings auch zwei mögliche Auswege sich konform mit den EU Regelungen und ausländischen Sanktionen zu verhalten: Zum einen kann im Rahmen der Beweislast eine differenzierte Einzelfallbetrachtung durch die nationalen Gerichte möglich sein. Zum anderen können Fälle extremer wirtschaftlicher Benachteiligung die zwingenden Verbotsregelungen der EU Blocking-Verordnung begrenzen.
Das grundlegende Dilemma für europäische Unternehmen und ihre Geschäftsleiter, sich zwischen der Einhaltung der US-Sekundärsanktionen und dem unionsrechtlichen Befolgungsverbot entscheiden zu müssen, bleibt trotz der EuGH-Entscheidung bestehen. Ob der europäische Gesetzgeber auf diese Situation reagieren wird, bleibt abzuwarten.