Vertrauensbasiertes System hin oder her – was ist in Bezug auf die formellen Vorgaben eigentlich noch verhältnismäßig? Das darf man sich nach der neuesten Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 27. August 2025 (Az. B 6 KA 9/24) durchaus fragen. Gegen einen Vertragsarzt in Einzelpraxis wurde ein Regress in Höhe von EUR 491.163,98 festgesetzt, weil er Sprechstundenbedarfsverordnungen nicht persönlich und handschriftlich unterzeichnet, sondern über drei Jahre hinweg einen Unterschriftenstempel genutzt hat, der das Schriftbild der Unterschrift darstellt. Die persönliche Unterschrift oder die qualifizierte elektronische Signatur sei nach Ansicht des BSG aber wesentlicher Bestandteil der Gültigkeit einer Verordnung – fehlt sie, liege ein Verstoß gegen den Grundsatz der persönlichen Leistungserbringung vor. Unbeachtlich sei, dass die Verordnungen im Übrigen medizinisch indiziert waren und die als Sprechstundenbedarf verordneten Materialien auch im Rahmen nachweislich durchgeführter Operationen verwendet worden seien. Deshalb verurteilte das BSG den Arzt zur vollständigen Erstattung des festgesetzten Regressbetrags.
In 14 aufeinanderfolgenden Quartalen wurden die gestempelten Sprechstundenbedarfsverordnungen durch die Krankenkassen nicht beanstandet – darin sieht das BSG jedoch kein Mitverschulden oder sonstigen Vertrauensausschlusstatbestand verwirklicht, denn die Fehlerhaftigkeit sei nicht ohne Weiteres für die Krankenkassen erkennbar gewesen.
Diese Entscheidung wird – unseres Erachtens zu Recht – derzeit scharf kritisiert. Die Höhe des Regresses halten viele angesichts eines relativ kleinen formalen Fehlers für unverhältnismäßig. Es bleibt spannend, was das BSG in seinen Urteilsgründen zu seiner Entscheidung ausführt. Aber schon jetzt gilt: Auch im vertrauensbasierten System der gesetzlichen Krankenversicherung bleibt die sorgfältige Einhaltung aller formellen Vorgaben essenziell, um Regressrisiken zu vermeiden. Nicht nur niedergelassene Vertragsärzte müssen sämtliche Vorgaben kennen und strikt beachten, sondern insbesondere auch die Ärztlichen Leiter und – jedenfalls mittelbar – die Geschäftsführungen der Trägergesellschaften Medizinsicher Versorgungszentren.
Die schier schon endlose Liste von Compliance-Maßnahmen, die Leistungserbringer im Gesundheitswesen treffen, einhalten und regelmäßig überprüfen müssen, sollte spätestens jetzt auch um eine Auflistung sämtlicher (formeller) Abrechnungsvoraussetzungen und Maßnahmen zu deren Einhaltung ergänzt werden. Denn wieder einmal zeigt sich: Unwissenheit schützt vor Strafe nicht. Und dass ein Regress wegen eines formellen Fehlers im mittleren sechsstelligen Bereich jedenfalls für kleinere Praxen existenzvernichtend sein kann, scheint im Rahmen von Verhältnismäßigkeitserwägungen oftmals keine Rolle zu spielen.