Eine Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 29. Juni 2023 (Az.: B 1 KR 35/21 R) betrifft die Frage, ob Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung im Rahmen ihrer Behandlung einer tödlich verlaufenden Erkrankung auch insoweit einen Anspruch auf ein Arzneimittel haben, als es im Rahmen des Zulassungsverfahrens von der EMA negativ bewertet wurde.
Der im Jahr 2004 geborene Kläger leidet an einer genetisch bedingten fortschreitenden Erkrankung, die typischerweise im frühen Erwachsenenalter tödlich verläuft. Der Kläger ist seit 2015 gehunfähig. Die Beklagte ist eine gesetzliche Krankenversicherung, bei welcher der Kläger die Kostenübernahme für das Arzneimittel „Translarna“ beantragt hatte. Die Beklagte lehnte die Übernahme mit der Begründung ab, das Arzneimittel sei nur für die Behandlung der Erkrankung bei gehfähigen Patienten zugelassen – hingegen nicht bei gehunfähigen Patienten. Anträge des Herstellers auf Erweiterung der Indikation auf nicht mehr gehfähige Patienten wurden von der EMA aufgrund negativer Bewertungen abgelehnt. Das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz verurteilte die Beklagte gemäß § 2 Abs. 1a SGB V auf Versorgung des Klägers mit dem Arzneimittel „Translarna“ und führte zur Begründung aus, dass die Behandlung mit „Translarna“ bei einem nicht mehr gehfähigen Patienten eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fernliegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Verlauf der Erkrankung habe.
Das Bundessozialgericht entschied am 29. Juni 2023 (Az.: B 1 KR 35/21 R) hingegen, dass der Kläger keinen Anspruch auf Versorgung mit dem Arzneimittel „Translarna“ nach § 2 Abs. 1a SGB V habe. Das Gericht hob die Entscheidung des Landessozialgerichts auf und wies die Klage ab. Versicherte hätten unter erleichterten Voraussetzungen Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie sich wegen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung in einer notstandsähnlichen Situation befinden. Erforderlich sei eine nicht ganz entfernte Aussicht auf Heilung oder positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf. Davon umfasst seien insbesondere Arzneimittel, deren Wirksamkeit noch nicht vollumfänglich belegt ist. Die erforderliche Erfolgsaussicht fehle aber, wenn das Arzneimittel im Zulassungsverfahren negativ bewertet wurde und zwar unabhängig davon, ob die Bewertung auf einer aussagekräftigen Studienlage beruht oder der medizinische Nutzen des Arzneimittels wegen methodischer Probleme bei Auswahl und Analyse der vom Hersteller vorgelegten Daten nicht bestätigt werden konnte. Dies sei bei dem Arzneimittel „Translarna“ der Fall, da es von der EMA negativ bewertet wurde. Nach der Rechtsprechung des 1. Senats entfalte ein im Zulassungsverfahren negativ bewertetes Arzneimittel eine Sperrwirkung nach § 2 Abs. 1a SGB V. Denn die Arzneimittelzulassung bezwecke den Schutz von Patienten mit schwerwiegenden Erkrankungen vor unkalkulierbaren Risiken. Das Zulassungsverfahren biete aufgrund der Expertise der Arzneimittelbehörden eine besonders hohe Gewähr für die Wissenschaftlichkeit und Unabhängigkeit der Bewertung. Das Arzneimittelrecht habe ein eigenes strukturiertes Qualitätssicherungssystem und erlaube erleichterte Zulassungen und Ausnahmeentscheidungen in Härtefällen. Liegt ein Fall außerhalb dieser Regelungen, kann keine weitergehende Ausnahme gewährt werden.
Co-Autorin: Katharina Hölle